Kurt Gossweiler

Revisionismus – Totengräber des Sozialismus

Zur Entstehung des modernen Revisionismus und zu seiner Etablierung in der Sowjetunion unter Chruschtschow 1953-1964
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Kurt Gossweiler

Zur Entstehung des modernen Revisionismus und zu seiner Etablierung in der Sowjetunion unter Chruschtschow 1953-1964

Inhalt:
1. Einige Bemerkungen zum Ursprung und zur Charakteristik des “modernen Revisionismus”
2. Wie Chruschtschow die Zerstörung der Sowjetmacht einleitete
3. Ziele und Wirkungen des XX. Parteitages der KPdSU
4. Zwei Schwerpunkte, mit denen sich die Revisionisten ihre Massenbasis verschafften und die Geschichtslüge, mit der sie die kommunistische Bewegung paralysierten.
5. Einige Schlussbemerkungen

Es ist für mich eine große Freude, diese Veranstaltung gemeinsam mit dem Genossen Harpal Brar bestreiten zu dürfen, den ich vor neun Jahren in Brüssel beim alljährlichen Mai-Seminar der Partei der Arbeit Belgiens zum ersten Mal erleben durfte.

Dass wir heute gemeinsam hier auftreten können, dafür sind wir alle hier der Zeitschrift “Offensiv” und ihren unermüdlichen Herausgebern, Frank und Anna, Dank schuldig.
Danken möchte ich aber auch den Zeitschriften, die ebenfalls bereit waren, Einladungs-Anzeigen zu dieser Veranstaltung abzudrucken, also der “Jungen Welt”, der “Roten Fahne” der KPD und der “UZ” der DKP.

Das gemeinsame Thema beider heutiger Referenten lautet: Der Revisionismus – Totengräber des Sozialismus. Diese Feststellung wird durch jedes der beiden heute vorzustellenden, aber vollständig unabhängig voneinander entstandenen Bücher belegt. Dass sie dennoch zu genau den gleichen Ergebnissen gelangt sind, bestätigt die Richtigkeit eines früher, als die kommunistischen Weltbewegung noch fest auf dem Fundament des Marxismus-Leninismus stand, unter Kommunisten geläufigen Wortes, das besagte: Wo auch immer Kommunisten leben – ob in Berlin, New York, Moskau oder Peking – sie werden zu allen entscheidenden Fragen des Klassenkampfes unabhängig voneinander überall die gleiche Position einnehmen.

Dabei waren unsere Ausgangspunkte schon allein durch den Altersunterschied bedingt ganz unterschiedlich. Mich als damals fast Vierzigjährigen haben schon die ersten drei Jahre Chruschtschow an der Macht zu der Überzeugung gebracht, die ich in meinem politischen Tagebuch am 19. Januar 1957 mit den Worten niedergeschrieben habe: “Kein Zweifel, an der Spitze der Partei Lenins und Stalins steht zur Zeit ein Feind, ein Vertrauensmann der imperialistischen Geheimdienste, allen voran des us amerikanischen, ein Komplize des seit langem zum Agenten des Secret Service und des CIA gewordenen Tito.” (Kurt Gossweiler, Die Taubenfuß-Chronik oder die Chruschtschowiade 1953 bis 1964, Bd. 1 1953 bis 1957, München 2002, S.209)

Auch unser Herangehen an die Analyse ist geprägt durch unsere jeweilige Spezialisierung: Genosse Brar als Ökonom hat das Hauptgewicht auf die Analyse der Wirtschaftspolitik Gorbatschows und – im Rückblick – Chruschtschows gelegt. Mein Hauptuntersuchungsfeld war dagegen die innere und äußere Politik Chruschtschows, die Politik gegenüber der Geschichte der eigenen Partei, die Politik gegenüber den Bruderparteien und sozialistischen Bruderländern – besonders gegenüber der DDR-, die Politik gegenüber dem Imperialismus. Die Wirtschaftspolitik blieb natürlich nicht unbeachtet, ihren Schädlingscharakter habe ich, wo ich ihn erkannte, – z. B. bei der Auflösung der MTS, bei der Neulandaktion – , aufgedeckt, aber für eine so genaue Analyse der “Wirtschaftsreformen” unter Chruschtschow und Breshnew, wie sie Genosse Brar durchführte, fehlten mir sowohl die notwendigen politökonomischen Kenntnisse als auch die nötige Materialkenntnis.

Aber wo man die Politik der Revisionisten auch packt: man kommt immer zum gleichen Ergebnis: der Revisionismus zielt auf die Restauration des Kapitalismus, und wo ihm nicht das Handwerk gelegt wird, da wird er zum Totengräber des Sozialismus und – das muss mit Nachdruck ergänzt werden: auch der kommunistischen Bewegung. Insofern ergänzen sich beide Bücher – ich möchte sagen: in glücklicher Weise – sowohl von der Chronologie her als auch von der Betrachtungsweise her. Und auch von der Zielsetzung her!

Im letzten Absatz seiner “Perestroika” schreibt Genosse Brar:

“Der Verfasser strebt nach Antwort auf die wichtigste Frage, nämlich: Wie war es möglich, dass …diese UdSSR, die einer gewaltigen Hitlerschen Kriegsmaschinerie das Genick brach,. als sozialistischer Staat so schmählich kollabierte? Niemand kann die enorme Bedeutung für die ganze kommunistische Bewegung leugnen, eine richtige Antwort auf diese Frage zu finden. Nur die Zeit und weitere Erörterungen werden erweisen, ob der Autor erfolgreich bei ihrer korrekten Beantwortung war.” (Perestroika, S.163)

Im Vorwort zu meiner “Taubenfußchronik” ist zu lesen:

”Seit dem Untergang der Sowjetunion und des Staat gewordenen Sozialismus in Europa ist die wichtigste und zugleich quälendste Frage für jeden revolutionären Sozialisten die Frage nach den Ursachen für diese Menschheitskatastrophe… Wenn die Chronik dazu beiträgt, in der kommunistischen und der Arbeiterbewegung einer einheitlichen Auffassung über die tatsächlichen Ursachen der keineswegs unvermeidlichen, sondern vermeidbaren Niederlage und darüber näherzukommen, wodurch der keineswegs unmögliche, sondern fast schon sichere, nicht mehr zurück zudrehende Sieg über den Imperialismus in diesem Jahrhundert verhindert wurde, dann hätte dieses Tagebuch doch noch einen gesellschaftlichen Nutzen erzielt und seine Veröffentlichung gerechtfertigt.”
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1. Einige Bemerkungen zum Ursprung und zur Charakteristik des “modernen Revisionismus”

Der alte, “sozialdemokratische” Revisionismus der Bernstein und Kautsky entstand als der theoretische Ausdruck der Interessen vom Monopolkapital korrumpierter Arbeiterschichten, die ihren Frieden mit einem “reformierten” Kapitalismus gemacht haben. Der “moderne Re-visionismus”, also der Revisionismus in den Kommunistischen Parteien und in den sozialistischen Ländern, entstand auf andere Weise, ist nicht “von unten” gewachsen. Den Begriff des “modernen Revisionismus” gab es in der Sowjetunion der Vorkriegszeit nicht, weil es das, was ihn ausmacht, noch nicht gab. Es gab den Trotzkismus als “linke” Abweichung, und es gab rechte, opportunistische Abweichungen von der marxistisch-leninistischen Generallinie der Partei, die durchaus Elemente enthielten, die auch für den modernen Revisionismus kennzeichnend sind, ohne jedoch schon alle dessen Merkmale und Inhalte in sich zu vereinigen.

Beide, der alte und der moderne Revisionismus, haben gemeinsam, dass sie Agenturen der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung sind: Der alte Revisionismus wirkt im Kapitalismus und will die Revolution verhindern, um den Kapitalismus zu erhalten. Der moderne Revisionismus will die Revolution rückgängig machen, um den Kapitalismus wiederherzustellen.

Das sozialistische Land, in dessen führender kommunistischer Partei erstmals an die Stelle des Marxismus-Leninismus das gesetzt wurde, was später den Namen “moderne Revisionismus” erhielt, war Titos Jugoslawien. Aber er war nicht dort entstanden, sondern hatte seinen Ursprung in den USA, und sein Schöpfer war kein anderer als der langjährige Generalsekretär der KP der USA, Earl Browder. Für eine ausführliche Darstellung seiner Auffassungen und des Weges, auf dem diese aus den USA in die kommunistischen Parteien Europas transportiert wurden, fehlt hier die Zeit; (Ausführlich hierzu Kurt Gossweiler, Die Ursprünge des modernen Revisionismus oder: Wie der Browderismus nach Europa verpflanzt wurde – Gedanken bei Lesen der Tagebücher von Georgi Dimitroffs, Offensiv – Zeitschrift für Sozialismus und Frieden 10/03)

Hier sei nur soviel erwähnt: Ab 1942, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, schlug Browder einen opportunistischen Kurs ein, löste die KP der USA auf und verwandelte sie in eine Art Propaganda-Verein, befürwortete das Aufgehen der Partei in einer breiten, alle Klassen umfassenden antifaschistischen Front, die Preisgabe des Kampfes der Kommunisten um den Sozialismus in den USA, und verkündete, die USA hätten ihre Absicht, den Sozialismus in der Sowjetunion zu beseitigen, aufgegeben, künftig werde ein dauerhafter Frieden durch die Zusammenarbeit der USA mit der UdSSR gesichert und die Sowjetunion solle ihre zerstörten Gebiete mit USA-Krediten wieder aufbauen.

Seine revisionistischen Ideen fasste er in einer Schrift zusammen. Die wurde während des Krieges in deutscher und französischer Sprache in der Schweiz unter den kommunistischen Emigranten verschiedener Länder – vor allem deutscher, ungarischer und jugoslawischer – verbreitet und in Schulungen breit popularisiert.

Der Mann, der die Übersetzung und die Verbreitung dieser Urschrift des modernen Revisionismus unter den kommunistischen Emigranten betrieb, war ein mit Browder persönlich befreundeter US-Beamter, Noel Field, der nach dem Abzug der Interbrigadisten und deren Einweisung in Lager in Frankreich der internationalen Kommission angehörte, die alle aus Spanien nach Frankreich evakuierten Freiwilligen der Internationalen Brigaden namentlich registrierte. In Frankreich und der Schweiz war er als Leiter einer us amerikanischen Hilfsorganisation tätig und knüpfte dadurch Beziehungen zu den kommunistischen Emigranten vieler Länder an. Gleichzeitig arbeitete er mit dem in Bern residierenden Chef des US-Geheimdienstes OSS, (Office of Strategic Services) , Allan Dulles, zusammen.

In seinem Buch Perestroika weist Genosse Brar darauf hin, (S.126 f.), dass einer der führenden polnischen Revisionisten, der bürgerliche Ökonom Oskar Lange, in den dreißiger Jahren Vorlesungen an der Universität in Chicago hielt und in seinem 1935 erschienen Buch: “Marxistische Ökonomie und moderne Wirtschaftstheorie” von revisionistischen Positionen aus die marxistische Ökonomie als veraltet und der modernen bürgerlichen Wirtschaftstheorie weit unterlegen erklärte. Er verbreitete Ideen über “eine elementare Gemeinschaft der Grundwerte” der USA und der Sowjetunion, die wir ähnlich bei Browder wieder finden. Es ist durchaus möglich, dass Browder von Langes Vorträgen und Büchern Kenntnis hatte und einige ihrer Ideen übernommen hat.

Zusammenfassend können wir sagen: Im Unterschied zum alten, sozialdemokratischen Revisionismus, der gewissermaßen aus den Oberschichten der Arbeiterklasse heraus gewachsen ist, ist der neue, “moderne” Revisionismus als imperialistische Zersetzungsideologie von außen in die kommunistische Bewegung eingeschleust worden.

Wie und warum aber konnte er dort Wurzeln schlagen und schließlich über den Marxismus-Leninismus in der Sowjetunion und ihren europäischen Verbündeten den Sieg davontragen?

Diese Tatsache ist noch schwerer erklärlich, wenn wir uns vor Augen halten, dass auf den beiden Moskauer Konferenzen von 1957 und 1960 der Revisionismus sehr treffend gekennzeichnet und zur Hauptgefahr für die kommunistische Bewegung erklärt wurde. So heißt es in der Erklärung der Beratung von 1957:

“Der moderne Revisionismus ist bemüht, die große Lehre des Marxismus-Leninismus in Verruf zu bringen, er erklärt sie für ‚veraltet’, behauptet, sie habe heute ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung verloren.

Die Revisionisten sind bestrebt, die revolutionäre Seele des Marxismus auszumerzen und den Glauben der Arbeiterklasse und des schaffenden Volkes an den Sozialismus zu erschüttern. Sie wenden sich gegen die historische Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus,

sie leugnen die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei,

sie lehnen die Prinzipien des proletarischen Internationalismus ab,

sie fordern Verzicht auf die grundlegenden Leninschen Prinzipien des Parteiaufbaus und vor allem auf den demokratischen Zentralismus,

sie fordern, dass die kommunistische Partei aus einer revolutionären Kampforganisation in eine Art Diskutierclub verwandelt wird.”

In der Schlusserklärung der Moskauer Beratung von 1960 wurde erneut bekräftigt, dass der Revisionismus die Hauptgefahr für die kommunistische Weltbewegung darstellt, darüber hinaus scharf mit dem Tito-Revisionismus abgerechnet:

“Die kommunistischen Parteien haben die jugoslawische Spielart des internationalen Opportunismus, die einen konzentrierten Ausdruck der ‚Theorien’ der modernen Revisionisten darstellt, einmütig verurteilt. Die Führer des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, die den Marxismus-Leninismus verrieten, indem sie ihn für veraltet erklärten, haben der Erklärung von 1957 ihr anti leninistisches revisionistisches Programm – (das “Laibacher Programm” von 1958, K.G.) – entgegengestellt, ihr Land vom sozialistischen Lager losgerissen, es von der Hilfe der amerikanischen und anderen Imperialisten abhängig gemacht und damit die Gefahr heraufbeschworen, dass das jugoslawische Volk seiner im heroischen Kampf erzielten revolutionären Errungenschaften verlustig geht. Die jugoslawischen Revisionisten betreiben eine Wühlarbeit gegen das sozialistische Lager und die kommunistische Weltbewegung. Unter dem Vorwand einer blockfreien Politik entfalten sie eine Tätigkeit, die der Einheit aller friedliebenden Kräfte und Staaten Abbruch tut.

Die weitere Entlarvung der Führer der jugoslawischen Revisionisten und der aktive Kampf dafür, die kommunistische Bewegung wie auch die Arbeiterbewegung gegen die antileninistischen Ideen der jugoslawischen Revisionisten abzuschirmen, ist nach wie vor eine unerlässliche Aufgabe der marxistisch-leninistischen Parteien.”

Diese Forderung war nur zu sehr berechtigt, aber sie kam viel zu spät. Was hier – 1960! – verlangt wurde: Entlarvung Titos als Revisionist, und Abschirmung der kommunistischen Bewegung gegen die antileninistischen Ideen der jugoslawischen Revisionisten – das hatten doch schon 1948, also 12 Jahre vorher, die Parteien des Kommunistischen Informationsbüros – KPdSU, Polnische Arbeiterpartei, Ungarische Partei der Werktätigen, KP der CSR, Bulgarische Arbeiterpartei, KP Frankreichs und KP Italiens – mit ihrer Resolution vom Juni 1948 “Über die Lage in der kommunistischen Partei Jugoslawiens” getan!

Wie konnte es da geschehen, dass wenige Jahre später dennoch der Revisionismus in der kommunistischen Bewegung zur Hauptgefahr werden konnte und sie erneut vor der Wühlarbeit der jugoslawischen Revisionisten gewarnt werden musste? Das ist das “Verdienst” Chruschtschows, dessen Rolle nun etwas näher betrachtet werden soll.
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2. Wie Chruschtschow die Zerstörung der Sowjetmacht einleitete

Eine der ersten Handlungen des nach Stalins Tod am 5. März 1953 im September 1953 zum Generalsekretär der KPdSU aufgestiegenen Chruschtschow, die mich stutzig machten, war jene, mit der die erwähnte Warnung der Parteien des Kommunistischen Informationsbüro vor dem Tito-Revisionismus als falsch und unberechtigt erklärt und damit die dringend notwendige Schutzimpfung aller kommunistischen Parteien gegen die Infektion mit dem Revisionismus, die diese Warnung dargestellt hatte, unwirksam gemacht worden war.

Am 26. Mai 1955 erklärte Chruschtschow als Leiter der sowjetischen Delegation bei deren Ankunft auf dem Belgrader Flughafen:

“Teurer Genosse Tito! Wir bedauern aufrichtig, was geschehen ist… Wir haben eingehend die Materialien überprüft, auf denen die schweren Anschuldigungen und Beleidigungen beruhten, die damals gegen die Führer Jugoslawiens erhoben wurden. Die Tatsachen (?!) zeigen, dass diese Materialien von Volksfeinden, niederträchtigen Agenten des Imperialismus, fabriziert waren, die sich durch Betrug in die Reihen unserer Partei eingeschlichen hatten.”

Ich habe in meinem Tagebuch damals diese Auslassungen Chruschtschows so kommentiert:

“Näheres darüber, welche Dokumente gefälscht sind, wurde nie veröffentlicht. Obwohl die Behauptung, dass die kommunistische Weltbewegung, mit so erfahrenen Genossen wie Stalin, Dimitroff, Togliatti, Thorez usw., sich durch Fälschungen einer Gruppe von Provokateuren zu einer vollkommen falschen Einschätzung der Situation eines Landes habe verleiten lassen; dass die kommunistische Bewegung mit der KPdSU an der Spitze im Unrecht, Tito dagegen der Mann sei, der im Recht ist; obwohl eine solche Situation das Aller unwahrscheinlichste ist, genügte für viele diese eine, durch nichts bewiesene Behauptung, um sie für Tatsache zu nehmen und von nun ab in Tito den “teuren Genossen”, dem bitter Unrecht geschehen ist, zu sehen.” (Taubenfuß-Chronik I, S.47 f.)

In meiner Chronik führe ich des weiteren Tatsachen an, die beweisen, dass Chruschtschows Reinwaschung Titos eine faustdicke Lüge darstellte. Das Tollste aber ist, dass Chruschtschow selbst, als nach der von Tito mit inszenierten Konterrevolution in Ungarn im Oktober-November 1956 endlich in der kommunistischen Weltbewegung der Revisionismus als Hauptgefahr für die Existenz des Sozialismus erkannt wurde und dadurch Chruschtschows Position an der Spitze der KPdSU gefährdet war, der sich, als habe er niemals seine Flugplatzrede gehalten, als Vorkämpfer gegen den Tito-Revisionismus aufspielte. So hielt er auf dem VII. Parteitag der KP Bulgariens im Juni 1958 eine Rede, in der er u.a. ausführte:

“Die kommunistischen Parteien hüten und wahren die Einheit ihrer Reihen wie ihren Augapfel. (Das sagt der Mann, der alles getan hat, um diese Einheit zu zerstören und vor allem Volkschina aus der Gemeinschaft der kommunistischen Staaten aus zustoßen!) Doch weiter in seinem Text: “Sie führen einen unversöhnlichen Kampf gegen Revisionismus und Dogmatismus. In diesem Kampf richtet sich das Hauptfeuer der kommunistischen Parteien naturgemäß gegen die Revisionisten als die Kundschaftler des imperialistischen Lagers…. Der moderne Revisionismus ist eine Art trojanisches Pferd. Die Revisionisten versuchen, die revolutionären Parteien von innen zu zersetzen, die Einheit zu unterminieren und Verwirrung und Durcheinander in die marxistische Ideologie zu tragen.” ( Das ist eine sehr gute Selbstbeschreibung seines Auftrages und seiner Hauptbeschäftigung!)

Doch das ist noch immer nicht alles: mit den folgenden Ausführungen gibt er selbst zu, dass seine Tito-Rehabilitierung von 1955 auf Lügen beruhte:

“Im Jahre 1948 nahm die Konferenz des Informationsbüros eine Resolution ‚Über die Lage in der KPJ’ an, die eine berechtigte Kritik an der Tätigkeit der KP Jugoslawiens in einer Reihe prinzipieller Fragen enthielt. Diese Resolution war im wesentlichen richtig und entsprach den Interessen der revolutionären Bewegung.” (ND v.5.Juni 1958).

Natürlich wusste das Chruschtschow auch 1955, als er in seiner Tito-Rehabilitierung das Gegenteil von sich gab.

Was aber ergibt sich daraus mit zwingender Logik? Einer, der sich selbst als Kommunist ausgibt, aber einem anderen, der sich auch als Kommunist ausgibt, von dem er aber weiß, dass der in Wahrheit ein Kundschaftler des Imperialismus, also ein imperialistischer Agent ist, diesem dennoch das Zeugnis eines zuverlässigen Kommunisten ausstellt – der kann nur ein Komplize des Agenten, also selbst ein Agent des Imperialismus sein!

Man sollte meinen, dass dies, wie es Genosse Brar in einem anderen Zusammenhang in seinem Buche formuliert, “selbst Idioten erkennen können.” (Perestroika, S.146) Aber davon kann leider keine Rede sein. Ich erlebe leider immer wieder, dass mir Genossen, die ich schätze und deren Verstand voll intakt ist, auf meine Feststellung: “Chruschtschow ist der Gorbatschow der fünfziger und sechziger Jahre, wie Gorbatschow der Chruschtschow der achtziger und neunziger Jahre ist”, erklären Ja, dass Gorbatschow ein Verräter war, damit hast Du ja recht gehabt. Aber Chruschtschow – das ist doch etwas anderes. Und selbst, wenn ich ihnen dann weitere Beispiele offenkundiger Lügen Chruschtschows und demagogischer Manöver vorführe, die eindeutig beweisen, dass dieser Mann seine Macht und Stellung dazu missbrauchte, den Interessen des Imperialismus zu dienen und darüber die Partei und das Volk irrezuführen, – dann genügt ihnen das alles immer noch nicht; offenbar reichen ihnen nicht für sich selbst sprechende Tatsachen aus, – sie sind durch Tatsachenzeugnisse von ihrem Glauben an die im Grunde doch guten Absichten des Nikita nicht zu heilen und von Chruschtschows bewusster Schädlingsarbeit nicht zu überzeugen, solange die ihnen nicht durch ein Papier, am besten mit einer von Chruschtschow unterschriebenen Verpflichtungserklärung als V-Mann des CIA , nachgewiesen wird.

Ich greife hier nur zwei weitere solche Tatsachenzeugnisse heraus, von denen jedes einzelne ausreicht, bei einem Kommunisten, der gewohnt ist, die Ehrlichkeit eines Parteiführers gegenüber seinen Genossen als Maßstab für dessen Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit zu nehmen, ausreichen würde, um zu sagen: Du magst alles mögliche sein, aber eines bist Du mit Sicherheit nicht: ein Kommunist oder gar einer, dem man die Führung der Partei anvertrauen darf!

Erstes Beispiel: nach Chruschtschows Totalverdammung Stalins in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU brachte es der gleiche Chruschtschow fertig, in seiner Festrede auf der Oktoberfeier des Jahres 1957, die völlig im Zeichen des Kampfes gegen den Revisionismus stand und er daher um seine eigene Stellung an der Spitze der Partei bangen musste, – so, als hätte es nie seine Rede auf dem XX. Parteitag gegeben -, zu erklären:

“Die Partei hat alle bekämpft und wird dies auch weiterhin tun, die Stalin verleumden und unter der Flagge der Kritik am Personenkult die ganze historische Tätigkeit unserer Partei falsch und verzerrt darstellen, in der J.W. Stalin an der Spitze des Zentralkomitees stand. Als treuer Marxist und Leninist und standhafter Revolutionär nimmt Stalin einen würdigen Platz in der Geschichte ein. Unsere Partei und das Sowjetvolk werden Stalins gedenken und ihm die gebührende Ehre erweisen.”

Was er darunter verstand, wurde auf dem XXII. Parteitag der KPdSU im Jahre 1961 offenbar, als er nicht nur alle seine Verleumdungen Stalins von 1956 wiederholen, sondern auch die engsten Mitarbeiter Stalins, Molotow und Lasar Kaganowitsch, als “Parteifeinde” aus der KPdSU ausschließen ließ.

Zweites Beispiel: Die Auflösung des Informationsbüros der Kommunistischen und Arbeiterparteien (Informbüro):

Auf einer Pressekonferenz in Neu Delhi am 14. Dezember 1955 führte der damalige sowjetische Ministerpräsident Bulganin aus:

“Manchmal stellt man die Frage, ob man denn die ‚Kominform’ nicht irgendwie liquidieren könne. Doch aus welchem Grunde sollten die kommunistischen und Parteien eigentlich auf eine allgemeingültige Form des internationalen Verkehrs und Zusammenwirkens verzichten?…Die Tätigkeit dieser Organisation beunruhigt alle, die das alte, überlebte System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu einer bleibenden Erscheinung machen wollen.”

Kurz danach, am 29. Dezember 1995 sprach Chruschtschow selbst zum gleichen Thema vor dem Obersten Sowjet der UdSSR und sagte dabei dies:

“Ausländische Journalisten in Indien fragten uns sehr oft: Warum lösen Sie das Kominform nicht auf? Wir haben darauf geantwortet: Warum schlagen Sie nicht vor, die Sozialistische Internationale aufzulösen? … Natürlich gefällt den Gegnern des Kommunismus das Kominform nicht…” (Taubenfuß-Chronik I, S.92).

In Gestalt westlicher Journalisten wurde Chruschtschow also Ende des Jahres 1955 nachdrücklich die Forderung derer unterbreitet, die durch die Tätigkeit des Informbüros “beunru-higt” waren, dieses aufzulösen.

Und, was geschah? Trotz der überzeugenden Zurückweisung dieser Forderung durch Bulganin und Chruschtschow? Am Dienstag, den 17.April 1956 erschien die Zeitung des Informationsbüros “Für dauerhaften Frieden, für Volksdemokratie zum letzten Mal mit einer “Informatorischen Mitteilung über die Einstellung der Tätigkeit des Informationsbüros der Kommunistischen und Arbeiterparteien.” Als Begründung wurden “Änderungen in der Internationalen Lage” angegeben. Aber zwischen dem Dezember 1955 und dem April 1956 hat nur ein Ereignis stattgefunden, das die internationale Lage in unabsehbarer Weise verändert hat: Der XX. Parteitag der KPdSU. Und der machte sehr schnell deutlich, dass – wie ich in meinem Tagebuch vermerkte – “ein Kontaktorgan der Kommunistischen und Arbeiterparteien noch nie so dringend nötig war wie gerade jetzt!” (Taubenfuß-Chronik I, S.91) Aber genau das war der Grund für seine Auflösung durch die Chruschtschow-Führung.

Der XX. Parteitag der KPdSU war von Chruschtschow dazu ausersehen, den Generalangriff auf das von Lenin und Stalin geschaffene sozialistische System und die marxistisch-leninistische Grundlage der kommunistischen Weltbewegung zu starten. Dazu sollte die tatsächliche ökonomische, politische und militärische Abhängigkeit der europäischen sozialistischen Länder von der Sowjetunion ausgenutzt werden, um diese zur widerspruchslosen Gefolgschaft bei der grundlegenden Kursänderung zu zwingen. Deshalb musste Schluss gemacht werden mit einem Organ, in dem die wichtigsten nächsten Schritte der sozialistischen Staaten und der kommunistischen Parteien kollektiv beraten und alle Parteien prinzipiell gleichberechtigt waren; musste auch Schluss gemacht werden mit dem in diesem Organ herrschenden Grundsatz, dass alle Parteien der kommunistischen Bewegung der Bewegung als Ganzem gegenüber Rechenschafts pflichtig sind. Von jetzt ab hatte zu gelten: Was in Moskau beschlossen wird, das gilt für alle – ausgenommen Tito und später hinzutretende Revisionisten, wie Gomulka und Kadar. Für sie – und nur für sie !- galt der Passus in der von Tito und Chruschtschow am 2.Juni 1955 unterzeichneten “Belgrader Deklaration”, der den “Nationalkommunismus” als ein “marxistisch-leninistisches Prinzip” legitimierte:

“Beide Regierungen gehen von folgenden Prinzipien aus: gegenseitige Achtung und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, Einmischung weder aus wirtschaftlichen noch aus politischen, ideologischen oder sonstigen Gründen, da die Fragen der inneren Einrichtung, des Unterschiedes in den Gesellschaftssystemen und des Unterschiedes in den konkreten Formen der Entwicklung des Sozialismus ausschließlich Sache der Völker der einzelnen Länder sind.” (Handbuch der Verträge, Berlin 1968, S.606 f.)
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3. Ziele und Wirkungen des XX. Parteitages der KPdSU

Das Verrückte an der Weigerung mancher Genossen, in Chruschtschow einen zu sehen, der wie Gorbatschow zum Ziel hatte, die sozialistische Ordnung im Lande zu unterminieren, ist, dass sie in ihm einen Heilsbringer und einen Retter des Sozialismus genau wegen der Veranstaltung sehen, die in Wahrheit die wichtigste Grundlage dafür schuf, dass Gorbatschow – gestützt auf die Vorarbeit von Chruschtschow und Breshnew – das von Chruschtschow eingeleitete Zerstörungswerk erfolgreich zu Ende bringen konnte – also wegen des XX. Parteitages.

Beginnt doch kein geringerer als Robert Steigerwald, führender Theoretiker der Deutschen Kommunistischen Partei und seit einiger Zeit auch Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung noch im Jahre 2001 einen ganzseitigen Artikel zum 45.Jahrestag des XX. Parteitages im DKP Organ ”Unsere Zeit” vom 9. Februar vorigen Jahres mit den Worten:

“Der XX. Parteitag der KPdSU beendete das System schwerer Verletzungen sozialistischen Rechts und sozialistischer Ideale, wie es sich, beginnend gegen Ende der Zwanzigerjahre in der Sowjetunion gebildet hatte.”

Es ist dies noch immer die Sicht nicht nur der Mehrheit der Bürger der ehemals sozialistischen Länder – von denen anderer Länder ganz zu schweigen -, sondern auch der Mehrheit der Kommunisten dieser und sicher auch vieler anderer Länder. Und das ist kein Wunder, gleichen doch die Stimmen, die dieser Geschichtsfälschung die Wahrheit über Chruschtschow und seine Bande entgegenhalten, einer einzelnen schwachen Stimme, die gegen das tosende Donnern der Wellen des Meeres der bürgerlichen und revisionistischen Medien anzurufen sucht.

Aber wir rufen weiter, in der Gewissheit: noch jede Wahrheit, die sich schließlich durchgesetzt hat, musste so beginnen!

Ich brauche in diesem Kreise nicht im Einzelnen nachzuweisen, dass der XX. Parteitag der Wendepunkt in der Geschichte der KPdSU war, der aus der bisher führenden und reifsten marxistisch-leninistischen Partei das Leitzentrum des modernen Revisionismus machte. Dies nicht nur wegen der revisionistischen Umschreibung der eigenen Geschichte, sondern wegen der Umschaltung von einer marxistisch-leninistischen Theorie und Praxis auf eine revisionistische auf allen Gebieten – Partei und Staat, Wirtschaft, Innen –wie Außenpolitik, Wissenschaft und der Kultur.

Nicht zu Unrecht aber verbindet jeder mit dem XX. Parteitag vor allem die “Geheimrede” Chruschtschows, seine “Abrechnung” mit Stalin. Die wenigsten aber wissen, dass Chruschtschow diese seine Rede dem Parteitag nach dessen offizieller Beendigung überfallartig aufgezwungen hat.

Als ich damals diese Rede zum ersten Mal las, sagte ich mir und schrieb es in mein Tagebuch:

“Es ist ausgeschlossen, dass das Politbüro oder das ZK die Rede so, wie sie gehalten wurde, vorher gebilligt hat. Die Westpresse hat ganz bestimmt recht, wenn sie ‚vermutet’, Chruschtschow sei in dieser Rede viel weiter gegangen, als vereinbart.” (Taubenfuß-Chronik I, S.74)

Eine Bestätigung dessen erhielt ich 45 Jahre später, als ich die Erinnerungen Lasar Kaganowitschs las. Er schildert sehr anschaulich, auf welche Weise Chruschtschow den Parteitag vergewaltigte.

“Der XX. Parteitag ging seinem Ende entgegen. Plötzlich wird eine Pause eingelegt. Die Mitglieder des Präsidiums werden in den hinteren Raum, der zum Ausruhen bestimmt ist, zusammengerufen. Chruschtschow stellt die Frage, auf dem Parteitag seinen Vortrag über den Persönlichkeitskult Stalins und dessen Auswirkungen anzuhören. Gleichzeitig wurde uns der Entwurf des Vortrages in einem rot gebundenen maschinenschriftlichen Büchlein verteilt. Die Sitzung ging unter anormalen Bedingungen vor sich – in einer Enge – manche saßen, andere standen. Es war schwierig, in kurzer Zeit dieses umfangreiche Heft durchzulesen und seine Inhalt durch zu denken, um entsprechend den Normen der innerparteilichen Demokratie einen Beschluss zu fassen. Alles das in einer halben Stunde, denn die Delegierten saßen im Saal und erwarteten etwas für sie Unbekanntes, da die Tagesordnung des Parteitages bereits erledigt war. … Schon vor dem XX. Parteitag hatte das Präsidium die Frage ungesetzlicher Repressalien und begangener Fehler behandelt. Das Präsidium des ZK bildete eine Kommission, die beauftragt wurde, die Angelegenheiten von Repressierten an Ort und Stelle zu untersuchen… und konkrete Vorschläge zu formulieren. Nach der Beratung dieser Fragen im Präsidium war vorgesehen, nach dem XX. Parteitag ein ZK-Plenum einzuberufen, um den Vortrag der Kommission mit entsprechenden Vorschlägen anzuhören. Genau dazu sprachen die Genossen Kaganowitsch, Molotow, Woroschilow und andere zur Begründung ihrer Einwände. Außerdem sagten die Genossen, dass wir einfach außer Stande seien, den Vortrag (Chruschtschows) redaktionell zu bearbeiten und Korrekturen anzubringen, die unbedingt nötig seien. Wir sagten, dass selbst ein flüchtiges Bekanntmachen zeigt, dass das Dokument einseitig und falsch ist. Die Tätigkeit Stalins könne auf keinen Fall nur von einer Seite beleuchtet werden, notwendig sei eine objektive Beleuchtung aller seiner positiven Seiten, damit die Werktätigen verstehen und allen Spekulationen der Feinde unserer Partei und unseres Landes eine Abfuhr erteilen. Die Sitzung zog sich hin, die Delegierten (im Saal) erregten sich, und deshalb wurde ohne jede Abstimmung die Sitzung beendet und wir begaben uns in den Saal. Dort wurde die Ergänzung der Tagesordnung verkündet: den Vortrag Chruschtschows über den Persönlichkeitskult Stalins anzuhören. Nach dem Vortrag fand keinerlei Aussprache statt, der Parteitag beendete seine Arbeit.” (Lasa Kaganowitsch, Pamjatnie Sapiski, Wagrius, Moskwa 1996, S. 508 f., Übers. K.G., zitiert in Taubenfuß-Chronik I, 18)

Es ist wenig bekannt, dass dieser Bericht weder zu Chruschtschows noch zu Breshnews Zeiten in der Sowjetunion veröffentlicht wurde. Die Partei lehnte es ab, ihn als offizielles Parteidokument anzuerkennen. Auch Chruschtschow hat sich während seiner Amtszeit nie als Verfasser seiner Rede bekannt. Veröffentlicht wurde sie kurz nach dem Parteitag zuerst in der New York Times.

Am 14. Mai 1957 gab Chruschtschow dem Korrespondenten der New York Times, Turner Catledge, ein Interview, in dessen Verlauf Catledge Chruschtschow auch folgende Frage stellte:

“Sie wissen vielleicht, dass im vergangenen Jahr die Zeitung New York Times den Text Ihrer Rede auf dem XX. Parteitag, in der Sie die Exzesse der stalinschen Periode kritisierten, veröffentlichte. Sind in dem Text Ihrer Rede, der in den westlichen Ländern veröffentlicht wurde, irgendwelche wesentlichen Auslassungen oder gar Entstellungen unterlaufen?”

Wie antwortete Chruschtschow auf diese Frage?

“Ich weiß nicht, von welchem Text die Rede ist. Ich hörte davon, dass in den USA irgendein Text veröffentlicht wurde, der vom amerikanischen Geheimdienst fabriziert worden ist und dieser Text als Text meines Vortrages auf dem XX. Parteitag ausgegeben wurde. Aber die Veröffentlichungen von Allan Dulles erfreuen sich keiner Autorität in der SU. Ich habe keinerlei Wunsch, Literatur zu lesen, die von Allan Dulles fabriziert wird.” (Taubenfuß-Chronik I, S.300)

Man kann getrost diese Antwort Chruschtschows als einen indirekten Hinweis auf die Stelle betrachten, die, wenn nicht selbst als Verfasser der Rede, so doch als Helfer und Begutachter ihres Entwurfes mitbeteiligt war, und ihren Apparat – keineswegs selbstlos, sondern im ureigensten Interesse -, für ihre weltweite Verbreitung zur Verfügung stellte.

Im westlichen Ausland waren die Anklagen gegen Stalin, die diese Rede enthielt, durchaus nichts Neues. Wurden sie doch dort von der bürgerlichen und sozialdemokratischen Presse und den Trotzkisten seit Jahr und Tag verbreitet. Solange sie aus diesen Quellen kamen, waren sie für die Kommunisten in aller Welt nur die Bestätigung dessen, dass die Sowjetunion auf dem richtigen Wege war, denn weshalb sonst würde sie von den Imperialisten und deren Meute so wütend verfolgt? Neu und sensationell war jedoch, dass diese Anklagen diesmal nicht aus dieser Richtung kamen, sondern dass es der Nachfolger Stalins an der Spitze der KPdSU war, der nunmehr bestätigte, dass alles, was die vereinten Antikommunisten im Westen bisher an Hetzlügen über die Sowjetunion verbreitet hatten, gar keine Hetzlügen seien, sondern die Wahrheit.

Die Wirkung auf die Kommunistischen Parteien war verheerend. Ihre erprobtesten Führer, die natürlich ein enges Vertrauensverhältnis zur Führung der KPdSU und zu Stalin gehabt hatten, waren von Heute auf Morgen mit dem Vorwurf belastet, einem Verbrecher zur Hand gegangen zu sein und die eigene Partei zur Gefolgschaft für diesen Verbrecher erzogen zu haben.

Wer bisher zutiefst von der Richtigkeit der Politik der eigenen Partei und der Sowjetunion überzeugt gewesen war, wurde in schreckliche Zweifel gestürzt und verunsichert; für viele war es gerade ihr tief sitzendes Vertrauen zur Sowjetunion, das sie nach schweren inneren Kämpfen sich zu der Haltung durchringen ließ, Stalin so zu sehen, wie dessen Nachfolger ihn schilderte. Wer aber schon vorher die strenge Parteidisziplin und den Kampf um die Reinheit und Einheit der Partei als lästige Fessel und Einengung der eigenen Persönlichkeit empfunden hatte, der empfand Chruschtschows “Abrechnung mit Stalin” als eine Art Befreiung. Ich habe das in meiner Umgebung damals selbst erlebt und in meinem Tagebuch festgehalten:

“Wenn heute bei vielen Kommunisten, ganz zu schweigen von den anderen Menschen, sich mit dem Namen Stalin in erster Linie Gefühle der Ablehnung, ja des Abscheus äußern, dann geht das auf den XX. Parteitag zurück. Und wenn es heute gelingt, in die kommunistische Bewegung Verwirrung zu tragen mit der falschen Frontstellung – Kampf gegen die Stalinisten – , dann wäre das ohne die Art und Weise, wie auf dem XX. Parteitag der Kampf gegen den Personenkult geführt wurde, auch kaum möglich geworden!

Es ist auffällig und bemerkenswert, dass gerade von den Parteien, die anerkanntermaßen am besten verstanden haben, sich im eigenen Volk eine Massenbasis zu schaffen, die Proportionen zwischen Verdiensten und Fehlern Stalins genau umgekehrt dargestellt wurden und werden, als dies der XX. Parteitag tat: KP Chinas, KP Frankreichs, KP Italiens” (Taubenfuß-Chronik I, S. 61)

“…Dazu kommt, dass in zahlreichen Parteien die Erklärung das plötzliche Auftreten parteifeindlicher, trotzkistischer Elemente ermuntert hat, ganz besonders nach den Ereignissen in Ungarn, aber auch schon vorher, die sich gegen die Führer wandten, die schon zu Lebzeiten Stalins an der Spitze der Partei standen.

Besonders gefährlich und verhängnisvoll war die Auswirkung auf die Jugend, die erzogen war, in Stalin die Verkörperung des Besten eines Revolutionärs zu sehen, und die ihn – ich spreche von der fortschrittlichen Jugend – liebte und verehrte von ganzem Herzen, wie nur Jugend lieben und verehren kann. Sie traf die Chruschtschow-Erklärung wie ein vernichtender Keulenschlag. Viele von ihnen hatten erlebt, wie sich ein Ideal, an das sie ebenso fest geglaubt hatten, der Nazismus, als Lüge, Heuchelei und Verbrechen enthüllt hatte. – Und jetzt wurde ihnen gesagt, dass sie wieder ihre Verehrung, ihre Begeisterung einem Unwürdigen zugewandt hatten. Sie mussten sich betrogen fühlen; sie fühlten sich betrogen, irregeführt, verhöhnt. Die unvermeidliche Reaktion: nichts mehr glauben, niemandem mehr vertrauen, allem misstrauen, was mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit auftritt!

Verlust des Vertrauens nicht nur zu Stalin, sondern zu den Führern, die sie gelehrt hatten, in Stalin das Vorbild zu sehen. Das war das Schlimmste; diese Erklärung hat das Vertrauen der Jugend zur Partei untergraben, hat sie in eine Stimmung der erbitterten Opposition gegen die Partei und deren Führer getrieben, hat sie dazu geführt, in dem, was der Feind sagt, auch eine Quelle der Wahrheitsfindung zu sehen, denn, nicht wahr, der hat das ja schon seit Jahren gesagt, was jetzt Chruschtschow bestätigt hat, und hätten wir früher darauf gehört, dann wäre uns diese Enttäuschung erspart geblieben. Ein zweites Mal soll uns das nicht passieren! – Verlust des Gefühls dafür, wer Feind, wer Freund. Abgleiten in Zynismus und alles verneinende Skepsis – all dem wurde der Boden bereitet, und das war der Zustand, der in Ungarn und Polen die Jugend in die Arme von Demagogen, gegen die Partei, trieb.

Wirkung auf die Intelligenz. Ähnlich wie bei der Jugend. Der Intelligenz gegenüber waren die gröbsten Fehler gemacht worden. Der notwendige Kampf gegen Individualismus, Eigenbrötelei, kleinbürgerlich-anarchistische Stimmung war mit Methoden der dogmatischen ‚Belehrung’, der Gängelei, der Einengung des schöpferischen individuellen Schaffens und mit deutlich zum Ausdruck gebrachtem Misstrauen gegen jeden, der ‚aus dem Rahmen fiel’, geführt worden. Die Ausgangsstimmung war hier also umgekehrt wie bei der Jugend – eine schon lange aufgestaute Erbitterung über all das. Die Reaktion auf die Erklärung musste aber gerade deshalb ähnlich sein. Die Erklärung war die Bestätigung dafür: Sie, die Intelligenz war im Recht, die Partei hatte ihr Unrecht getan, die Partei hat sich überhaupt nicht um unser Schaffen zu kümmern, sie hat uns keine Vorschriften zu machen, sie versteht nichts davon. Der Drang war riesengroß, jetzt all die aufgestaute Erbitterung heraus zu schreien, mit all den längst empfundenen Fehlern der Vergangenheit gründlich aufzuräumen, damit sie nie, nie wiederkehren konnten. Das wurde zur Hauptsorge: so gründlich abrechnen, dass restlos und für immer Schluss ist damit. Dabei übersahen viele, dass die Hauptsorge die alte geblieben war; das was wir erreicht hatten – und das war doch bei allen Mängeln etwas ganz Gewaltiges, in Deutschland, Ungarn, Polen noch nie Dagewesenes – das zu schützen und zu verteidigen gegen den immer auf der Lauer liegenden Feind. Die Partei hat das gesagt – aber viele glaubten ihr nicht, weil sie argwöhnten, dahinter verberge sich nur der Unwille, die Fehler der Vergangenheit wirklich zu liquidieren, und weil sie viele Zusammenhänge sahen, die die Führung sah, aber nicht mitteilen konnte. Und sie glaubten auch deshalb nicht, weil sie nach der Chruschtschow-Erklärung in ihrem Vertrauen zur Partei erschüttert waren. Und so gerieten viele ehrliche Intellektuelle an die falsche Front, wie sich in Ungarn zeigte.

Weitere Wirkungen: Große Einbuße an Autorität der KPdSU. Ganz selbstverständlich drängte sich die Überlegung auf: Eine Partei, an deren Spitze jahrzehntelang ein solcher Mann stehen konnte, wie er durch Chruschtschow charakterisiert worden war, – eine Partei die unfähig ist, sich von ihm rechtzeitig zu befreien – , die kann nicht mit dem Anspruch auftreten, mit dem sie bisher aufgetreten ist. So hat diese Erklärung auch den Boden bereitet für antisowjetische Stimmungen, für die Losungen der so genannten Nationalkommunisten. Nicht umsonst berufen sie sich auf den XX. Parteitag. Sie wissen, was sie ihm verdanken!

Diese Erklärung rief hervor bzw. verstärkte enorm eine Feindschaft gegen den Partei- und Staatsapparat. Die Theorien, nach denen der “Apparat” (und nicht etwa die historischen Bedingungen) die Quelle für das Gedeihen des Personenkults sein sollten, fanden breiten An-klang. Die Losung “Demokratisierung” wurde alsbald bei vielen gleichbedeutend mit Kampf gegen den “Apparat”. Er wurde nicht mehr als der eigene Apparat, den man verbessern muss, schlagkräftiger machen muss, sondern als der Feind, der Gegner betrachtet, der liquidiert werden muss.

All diese Dinge zusammengenommen, die ohne Zweifel eine günstige Situation für einen Vorstoß der Konterrevolution schufen, hätten ohne die Chruschtschow-Erklärung, so wie sie gegeben wurde, niemals solch günstige Wachstumsbedingungen finden und der Kampf gegen sie hätte niemals so schwierig werden können. Aber das Ziel, die Überwindung des Dogmatismus usw., hätte sich ohne Zweifel nicht nur auch, sondern besser ohne Anwendung dieser ‚Schock-Therapie’ erreichen lassen. Wir fragten uns damals: Ist es denn nötig, das Pendel jetzt wieder ganz bis ans andere Ende schlagen zu lassen?

Es war nicht nur nicht nötig, es war falsch und schädlich. Dazu kommt noch eine weitere Wirkung: eine gewisse ideologische und politische Demobilisierung, hervorgerufen durch die Feststellung, dass durch die übertriebene Wachsamkeit Tausende gute Kommunisten unschuldig verurteilt worden waren. Diese Abschwächung der Wachsamkeit wurde noch erheblich verstärkt durch die Erklärung der verschiedenen Parteien, dass die Prozesse gegen Rajk, Kostoff usw. unkorrekt waren, dass also Leute als Agenten verurteilt wurden, ohne es zu sein. Logische Folge: solche Fehler, die dazu führen, unschuldigen Leuten Unrecht zu tun, ja sie hinzurichten, wollen wir nie wieder machen. Also Schluss mit der Agentenfurcht und Agentenriecherei! Ergebnis: Im Oktober 1956 hat der Feind gezeigt, dass er nach wie vor da ist, dass es Agenten des Feindes in den eigenen Reihen gibt, und dass sie nicht zuletzt durch unsere Vertrauensseligkeit so aktiv werden konnten.” (Taubenfuß-Chronik I, S. 65-69)

Zu denen, die auf die eine oder andere Weise Opfer des XX. Parteitages wurden, sich aber bis heute nicht als Opfer, sondern als Befreite durch ihn empfinden, gehört auch Genosse Robert Steigerwald. In seinem schon erwähnten Artikel zum XX. Parteitag schreibt er gegen Leute wie Genossen Brar und mich:

“Es wird der Vorwurf erhoben, der XX. Parteitag sei ein Akt der Konterrevolution gewesen, durchgeführt von revisionistischen Kräften, denen es um die Zerstörung der ruhmreichen von Stalin geprägten Partei gegangen sei. Diese Argumentation zerbricht an ihrer inneren Widersprüchlichkeit. Wenn es möglich war, dass innerhalb von drei Jahren (nach Stalins Tod waren drei Jahre vergangen) eine solche Partei konterrevolutionär überrumpelt werden konnte, so war diese Partei schon vorher nicht mehr das, wofür ihre Verteidiger sie halten. Dann hat der Zersetzungsprozess der Partei nicht erst 1956 begonnen. Oder aber, das wäre die andere Seite des Widerspruchs, der XX. Parteitag war, obwohl eine scharfe Wende in der Parteigeschichte, eben kein Akt der Konterrevolution.”

Genosse Steigerwald macht es sich entschieden zu leicht. Wir sagen nicht, dass es den revisionistischen Kräften darum ging, die Partei zu zerstören, sondern es ging ihnen darum, sie in ihre Hand zu bekommen, um sie in ein Instrument zur Restauration des Kapitalismus umzuwandeln. Das ist ihnen schließlich gelungen, aber die von Lenin und Stalin in 36 Jahren errichtete sozialistische Ordnung war so stabil, dass die Chruschtschow und Gorbatschow sich 37 Jahre abmühen mussten, um sie wieder aus der Welt zu schaffen.

Das lag in erster Linie daran, dass diese sozialistische Ordnung fest in den Massen verwurzelt war und alle Häuptlinge des Revisionismus – Chruschtschow, Breshnew und Gorbatschow – das Vertrauen der Massen für eine gewisse Zeit nur deshalb erringen konnten, weil sie feierlich ihre Treue zum Leninismus bekundeten und versprachen, die sozialistische Ordnung auf nie gekannte Höhen zu führen. Keiner von ihnen hätte auch nur die unterste Stufe der Macht er-reichen können, hätte er offen ausgesprochen, dass sein Ziel die Wiedererrichtung des Kapitalismus ist. Sie betrogen die Massen, indem sie ihrem Ziel – der Rückkehr zum Kapitalismus – den Namen “Umbau zur sozialistische Marktwirtschaft” gaben.

Und das lag zweitens daran, dass es der Revisionisten-Bande nicht gelungen ist, die Partei ihrem Willen vollständig gefügig zu machen. Chruschtschow hatte bis zu seinem Sturz im Oktober1964 einen nach außen kaum sichtbaren ständigen Kampf gegen den Widerstand der verbliebenen marxistisch-leninistischen Kräften zu führen. Und Gorbatschow benutzte zunächst die Partei, um den Staatsapparat in die Hand zu bekommen, um dann von dort aus die Partei zu entmachten. In seinem berüchtigten Interview mit dem Spiegel (Spiegel Nr. 3/93, S.127) rühmte er sich dessen mit den Worten:

“Dabei konnte man doch nicht Dinge ankündigen, für die das Volk noch nicht reif war. Man hätte mich für verrückt erklärt, das Volk wäre zerrissen worden, es hätte zum Bürgerkrieg kommen können. Man musste Geduld zeigen, bis die Parteibürokratie so entmachtet war, dass sie das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen konnte.”

Und schließlich lag das drittens auch daran, dass in der kommunistischen Weltbewegung starke Kräfte, an ihrer Spitze die Partei Mao Tse tungs, einen erbitterten Kampf gegen den Revisionismus in der kommunistischen Bewegung führten.

Alles das liegt aber außerhalb des Blickfeldes der Verteidiger Chruschtschows und des
XX. Parteitages.
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4. Zwei Schwerpunkte, mit denen sich die Revisionisten ihre Massenbasis verschafften und die Geschichtslüge, mit der sie die kommunistische Bewegung paralysierten.

Das demagogische Repertoire der Massenverführung und des Massenbetruges der Revisio-nisten ist umfangreich und vielseitig. Ich greife jene Punkte heraus, von denen ich meine, dass sie die wirkungs- und verhängnisvollsten waren: Erstens: das Anknüpfen an die Friedens-sehnsucht: die so genannte “Entspannungspolitik; zweitens: das Versprechen einer raschen Steigerung des Volkswohlstandes, drittens: die paralysierende Geschichtslüge: Die Verteufelung Stalins

Zum ersten Punkt: Kein Gefühl und keine Sehnsucht bei allen am Krieg beteiligten Völkern, ganz besonders aber beim Sowjetvolk, war stärker als die elementare Sehnsucht nach Frieden. Das war nur natürlich nach dem blutigsten und verlustreichsten aller bisherigen Kriege. Aber hinzu kam ein ganz neuer, schwerwiegender Umstand: der Eintritt der Menschheit ins Atomzeitalter! Krieg bedeutete nunmehr die Drohung mit einem Atominferno, wie es die US-Atombomben in Hiroshima und Nagasaki angerichtet hatten. Das steigerte die Kriegsfurcht der Menschen auf ein bisher nie erreichtes Maß. Nachdem die Sowjetunion das Atomwaffenmonopol der USA gebrochen hatte, konnten die Menschen wieder ruhiger schlafen. Die Atomerpressung als Waffe des USA-Imperialismus gegen den Sozialismus war stumpf geworden.

Die Chruschtschow-Bande, an die Macht gekommen, verhalf dieser Waffe in Komplizenschaft mit den USA-Imperialisten zu neuer Schärfe. Sie rief nach einem abgestimmten Szenario mit ihren imperialistischen Partnern mehrfach Situationen scharfer politischer Zuspitzungen hervor – wie z.B. in der Berlin – und in der Kuba-Krise -, und malte die akute Gefahr eines Atomkrieges in den schrecklichsten Farben an die Wand.. Noch heute schreiben Journalisten und Historiker, wenn sie über diese Krisen berichten, die Welt habe damals dicht am Rande eines Atomkrieges gestanden.

Im Ernst dachte im Weißen Haus und im Pentagon aber niemand daran, einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion zu führen, solange dort einer an der Spitze war, der ihr Spiel spielte. Sie hatten spätestens seit dem XX. Parteitag vorrangig auf die innere Zersetzung der Sowjetunion und ihres Machtbereiches gesetzt. Kein anderer als der US-Außenminister John Foster Dulles hatte seiner Hoffnung auf eine solche Entwicklung am 11. Juli 1956 in einer Rede Ausdruck verliehen, von der die Presse wie folgt berichtete:

“Dulles sieht eine Befreiung der Satellitenstaaten für möglich an. Dulles sagt voraus, dass Kräfte der Freiheit, die nun hinter dem Eisernen Vorhang am Werke seien, sich als unwiderstehlich erweisen, und dass sie die internationale Szenerie bis zum Jahre 1965 umändern könnten. Die Anti-Stalin-Kampagne und ihr Liberalisierungsprogramm hätten eine Kettenreaktion ausgelöst, die auf lange Sicht nicht aufzuhalten sei.” (Taubenfuß-Chronik I, S.100 f.).

Wer auf eine solche Kettenreaktion setzt, der denkt im Ernst nicht daran, eine Atomreaktion mit allen ihren Risiken zu entfesseln.

Wozu aber wurde dann die Schürrung der Atomkriegsangst gebraucht? Chruschtschow verfolgte und erreichte mit ihr mindestens zwei Ziele: erstens – in der kommunistischen Bewegung und bei der eigenen Bevölkerung die antiimperialistische Grundeinstellung aufzuweichen mit der Behauptung, die Atomkriegsgefahr könne nur gemeinsam mit den USA gebannt werden, der USA-Imperialismus dürfe daher nicht mehr nur als Gegner gesehen werden, sondern er sei der unentbehrliche Partner der Friedens sichernden Entspannungspolitik.

Zweitens entwickelte Chruschtschow– angeblich zur Beseitigung der Atomkriegsgefahr, in Wirklichkeit zur Ausschaltung der Kontrolle seiner Geheimbesprechungen mit den Gesprächspartnern der imperialistischen Seite durch das Kollektiv der Parteiführung, und zur Ausschaltung des Außenministeriums – die “Gipfeldiplomatie”, mit der er sich als den unermüdlichen Friedensretter darstellte und feiern ließ, die jedoch in Wirklichkeit die Rückkehr zur unkontrollierten Geheimdiplomatie darstellte.

Und schließlich benutzte er diese seine Reisen und Gespräche mit den imperialistischen Spitzenpolitikern, wie dem USA-Präsidenten Eisenhower, auch noch zur Sympathiewerbung für den USA-Imperialismus und seine Spitzenpolitiker.

Zum zweiten Punkt: nach den harten Kriegsjahren mit ihren großen Opfern und Entbehrungen sehnten sich die Menschen der Sowjetunion nicht nur nach Frieden, sondern auch nach einer raschen Wiederherstellung normaler Verhältnisse; und sie erwarteten völlig zu Recht als Früchte des Sieges auch eine spürbare Erhöhung ihres Lebensstandards.

Der Wiederaufbau in den ersten Jahren nach dem Kriege hatte große Erfolge gebracht, aber die Lebensverhältnisse ließen natürlich noch viele Wünsche offen. Die Chruschtschow-Führung nutzte diese Situation in echter Schädlingsart aus: Sie weckte unerfüllbare Hoffnungen mit dem Versprechen, anders als unter Stalin jetzt die Konsumbedürfnisse des Volkes an die erste Stelle zu setzen und die Versorgungslage rasch zu verbessern. Mit der Begründung, dies sei für die rasche Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung notwendig, wurde ein Schädlingsprogramm in Szene gesetzt, indem der Vorrang der Entwicklung der Produktionsgüterindustrie vor der der Konsumgüter-Industie, – die unbedingte Voraussetzung für ein stabiles Wachstum der gesamten Wirtschaft – beseitigt und das Verhältnis beider Abteilungen zueinander nahezu umgekehrt wurde. Das musste auf längere Sicht gesehen zu Engpässen und zugespitzten Versorgungsschwierigkeiten auf allen Gebieten führen, und damit auch zu wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung, und führte in der Tat dazu.

Dass ihre Politik dahin führen würde, das wussten natürlich auch Chruschtschow und seine Fachleute – mehr noch – das war eingeplant. Wer den Sozialismus abschaffen und den Kapitalismus restaurieren will, der muss dafür sorgen, dass der Sozialismus die Unterstützung durch die Massen verliert, dass Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen entsteht und wächst und eine Massenstimmung entsteht, in der alle sagen: So kann es nicht weitergehen!

Revisionistische Wirtschaftspolitik führt deshalb nicht aus Unfähigkeit der revisionistischen Wirtschaftsleiter zum Niedergang der Wirtschaft, sondern er wird planmäßig herbeigeführt, weil das politische Ziel der Überwindung des sozialistischen Systems und seine Beseitigung nur durch die Ruinierung der Wirtschaft zu erreichen ist.

Die Chruschtschow, Breshnew und Gorbatschow sorgten aber nicht nur für den Niedergang der Wirtschaft im eigenen Land, sondern taten alles, was sie konnten – und das war gewaltig viel! –, um auch die Wirtschaft in allen anderen sozialistischen Länder in krisenhafte Verhältnisse zu stürzen, soweit dies die dortigen revisionistischen Führer – wie in Ungarn und Polen – nicht schon selbst taten.

Schließlich zum dritten Punkt: Die “Enthüllungen” der “Stalinschen Verbrechen.” Darüber müsste sehr viel und ausführlich gesprochen werden, aber meine Redezeit ist fast um.
Daher nur einige Gedanken und Feststellungen.

Die revisionistische Konterrevolution musste schon in den Anfängen stecken bleiben, wenn nicht die Autorität zerstört wurde, die Stalin nahezu uneingeschränkt im Sowjetvolk und in allen kommunistischen Parteien, ja bis weit in die Kreise des Bürgertums in der ganzen Welt genoss, die in ihm als dem Führer des Sowjetvolkes zu Recht den Befreier vom Faschismus erblickten.

Er musste zum Teufel gemacht werden, weil er nicht der bleiben durfte, an dessen Lehren und Taten seine Nachfolger gemessen würden. Und diese Lehren und Taten waren Marxismus-Leninismus in Aktion und lebendig im Bewusstsein der Menschen; jede Abweichung von ihnen hätten sie wachsam gemacht und ihren Widerstand hervorgerufen.

Weil man den Marxismus-Leninismus über Bord werfen wollte, um freie Hand für den Kurswechsel zum Revisionismus zu gewinnen, deshalb musste der personifizierte Marxismus-Leninismus, Stalin, nicht nur über Bord geworfen, sondern zu seinem Gegenteil, zum Anti-Marxisten-Leninisten erklärt werden. Denn das Volk wollte keinen Kurswechsel, sondern an Marx und Lenin und dem Sozialismus festhalten.

Deshalb durfte es den Kurswechsel nicht als das erkennen, was er tatsächlich war, sondern ihm musste vorgemacht werden, dieser Kurswechsel sei die Rückkehr von der Stalinschen Kursabweichung wieder zum richtigen Leninschen Kurs. Dazu wärmte Chruschtschow in seiner Geheimrede die alte Geschichte mit dem als Testament Lenins ausgegebenen Brief Lenins an den bevorstehenden Parteitag wieder auf, mit der schon Trotzki vergeblich versucht hatte, nach Lenins Tod Stalin zu stürzen und sich selbst zum Nachfolger Lenins an die Spitze der Partei auf zuschwingen.

Das schärfste Kontrastbild zu Lenin stellte er aber her, indem er Stalin als willkürlichen, blutgierigen Despoten darstellte. Was er dazu in seinem Bericht ausmalte, war ein Verbrechen an der Partei und der Sowjetmacht. Dies nicht etwa deshalb, weil er bisher kaum oder nur unvollständig bekannte Tatsachen über unschuldige Opfer der “Säuberungen” der Jahre
1936-39 zur Sprache brachte, sondern weil er in der so genannten Geheimrede in vielen Passagen eine ungeheuerliche Fälschung der Geschichte der Sowjetunion beging; auch – aber keineswegs nur – damit, dass er die Prozesse und die “Säuberungen”, die von der gesamten Parteiführung beschlossen und getragen wurden, allein Stalin als dessen persönliche Willkürakte zu schrieb.

Wäre Chruschtschows Ziel nicht gewesen, Stalins Autorität ein für allemal zu zertrümmern, um nicht ständig an ihm gemessen zu werden, und um für seine konterrevolutionäre Kursänderung freie Bahn zu haben; und hätte zu seiner Absicht nicht auch gehört, der Überzeugung der Sowjetbürger in die Gerechtigkeit ihrer Sache und dem Stolz auf ihre Sowjetmacht einen schweren Schlag zu versetzen; hätte er wirklich nur im Sinne gehabt, den unschuldigen Opfern der “Säuberungen” Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die geschichtliche Wahrheit über die Zeit der Repressionen darzulegen, dann hätte in seinem Bericht etwa das Folgende gesagt werden müssen:

“1936, nach der Errichtung der faschistische Diktatur in Deutschland, nach der Aufrüstung des faschistischen Deutschland unter Duldung und sogar Mithilfe der Westmächte, nach dem Verrat der Westmächte an der spanischen Republik, standen wir vor der Gefahr, vom faschistischen Deutschland, – möglicherweise sogar im Einvernehmen mit den Westmächten, – über-fallen zu werden und uns allein der stärksten Militärmacht der ganzen Kriegsgeschichte gegenübergestellt zu sehen, von der wir aus dem Spanienkrieg schon wussten, was sich dann in Norwegen und Frankreich später wiederholte, nämlich, dass der faschistischen Wehrmacht im Hinterland der überfallenen Länder “fünfte Kolonnen” von Quislingen und Verrätern zu Hilfe kamen.

Wie groß die Gefahr des Überfalles war, zeigte sich noch viel deutlicher mit dem Münchener Abkommen der Westmächte mit Hitler und der Auslieferung der Tschechoslowakei an ihn, mit der Weigerung der Westmächte, mit uns einen Vertrag über kollektive Sicherheit und gegen-seitigen Beistand zur Bändigung Hitlerdeutschlands abzuschließen.

Unsere Vorbereitungen auf den faschistischen Überfall mussten also auch der Verhinderung der Bildung einer 5. Kolonne in unserem Hinterland gelten. Noch gab und gibt es bei uns Feinde der Sowjetmacht, einst von uns enteignete Kulaken und ihre Nachkommen, Reste der zerschlagenen Gruppe der Trotzkisten und anderen Oppositionsgruppen, – hatte doch Trotzki mehrfach in seinen Veröffentlichungen dazu aufgerufen, im Kriegsfalle den Aufstand gegen den “Stalinismus” zu beginnen; ferner Leute, die mit den Deutschen sympathisieren, z.B. unter den Wolga-Deutschen oder bei bestimmten Nationalitäten, wie den Krimtataren und den Tschetschenen.

Also mussten wir angesichts der tödlichen Bedrohung alles tun, um es möglichen Feinden der Sowjetmacht unmöglich zu machen, im Hinterland mit Fünften Kolonnen den faschistischen Überfall zu unterstützen. Dabei mussten wir in Rechnung stellen und in Kauf nehmen, dass es bei Säuberungen so großen Ausmaßes, wie wir sie für notwendig erachteten, nicht auszuschließen war, dass auch Unschuldige, sei es wegen absichtlicher Falschbeschuldigungen feindlicher Elemente, sei es aus Übereifer örtlicher Organe, sei es durch Anlegen eines zu pauschales Rasters, in erheblichem Umfange von den Maßnahmen betroffen sein würden, wie es dann auch der Fall war.

Aber wir hatten damals abzuwägen, was schwerer wog: Wenn wegen ungenügender Sicherungsmaßnahmen die Sowjetmacht durch kombinierte Schläge der faschistischen Armeen und der Fünften Kolonnen zugrunde ging – oder wenn wir bei den Gegenmaßnahmen nicht nur echte Feinde, sondern auch Unschuldige und sogar eigene Leute treffen würden. Die Partei hat sich für die Sicherung des Landes als die allem anderen übergeordnete Pflicht entschieden.

Jetzt aber ist es an der Zeit, dabei begangenes Unrecht aufzuklären und zu beenden.”

So oder so ähnlich hätte eine ehrliche, kommunistische Stellungnahme zu der für jeden Kommunisten schmerzlichsten Seite der Geschichte der Sowjetunion lauten müssen.

Eine kommunistische, das heißt wahrheitsgemäße Schuldzuweisung auch für diese Opfer hätte klar aussprechen müssen, dass auch ihre Leiden und ihr Tod wie der von 25 Millionen Sowjetsoldaten und der von 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges auf das Konto derer geht, die die Führung der Sowjetunion vor eine solch grausame Entscheidung stellten – auf das Konto Hitlers und des deutschen Imperialismus vor allem; in zweiter Linie aber auch auf das Konto derer, die Hitlerdeutschland aufrüsteten, um es als Stoßkeil gegen die Sowjetunion zu lenken und seine Bändigung durch ein kollektives Sicherheitsbündnis sabotierten.

Indem er statt dessen Stalin als Massenmörder Unschuldiger hinstellte, übernahm nun der Führer der KPdSU die bisher nur über die westlichen Medien verbreiteten antisowjetischen Hetz-Lügen aus den Küchen der imperialistischen Spezialisten für psychologische Kriegsführung und verkündete sie als Wahrheit.

Von daher kommt es, dass ehrliche und überzeugte Kommunisten auch heute noch bedenkenlos die giftige Verleumdung weitergeben, Stalin habe mehr Kommunisten umgebracht, als Hitler. Die Wahrheit ist, dass alle Kommunisten, alle Kämpfer gegen den Faschismus und alle Juden, die im vom Faschismus besetzten Europa überlebt haben, dies vor allem der Sowjetunion, der Roten Armee und damit auch Stalin verdanken.
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5. Einige Schlussbemerkungen

1. Der Sieg des Revisionismus über den Marxismus-Leninismus in der KPdSU und anderen kommunistischen Parteien war die Voraussetzung für den zeitweiligen Sieg des Imperialismus und die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion und den sozialistischen Staaten in Europa.

Die Überwindung des Revisionismus in der gesamten kommunistischen Bewegung ist die Voraussetzung für ihren neuen Aufschwung und für neue Siege des Sozialismus über den Imperialismus

2. Der Anti-Stalinismus der revisionistischen Unterminierer und Zerstörer des Staat-gewordenen Sozialismus, von Tito über Chruschtschow bis zu Gorbatschow, ist das stärkste Zeugnis für Stalin:

Es gibt keinen stärkeren Beweis für die positive Rolle Stalins als die Tatsache, dass die Zerstörung seiner Autorität in der Sowjetunion und in der kommunistischen Bewegung die Voraussetzung war für die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion.

Ohne “Entstalinisierung” keine Restauration des Kapitalismus!

3. Der Anti-Stalinimus ist komprimierter Revisionismus, also Anti-Leninismus, jedoch in der Maskerade eines Verteidigers des Leninismus. Der Angriff auf Stalin ist für die Revisionisten vom Schlage Tito-Chruschtschow-Gorbatschow nur der Beginn. Er zielt von Anfang an auf Lenin. Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn der Chruschtschow-Zögling und Gorbatshow-Berater Jakowlew in seiner Autobiografie seine Hassorgien mehr noch als auf Stalin gegen Lenin richtet. Die FAZ v. 26. Januar 2004 zitiert aus seinem Buche (“Die Abgründe meines Jahrhunderts”) : “In der Geschichte hat es keinen Menschen gegeben, der Russland mehr hasste als Uljanow-Lenin. Was immer er anfasste, verwandelte sich in einen Totenacker, in ein Riesenfeld mit menschlichen, sozialen und ökonomischen Gräben. Alle wurden ausgeraubt – die Lebenden und die Toten.” Mit einigem Erstaunen stellt die FAZ fest, dass Jakowlew alle, die der Meinung seien, Stalin, nicht Lenin sei der wahre Unhold der Sowjetmacht gewesen, darüber belehrt, “die Geschichte des Stalinismus weise im Grunde nichts Neues auf”. In der Rezension des Jakowlew-Buches im “Neuen Deutschland” (29.1.04) wird der gleiche Tatbestand so beschrieben: “Nach Jakowlew gab es keinen strategischen Bruch zwischen der Periode des weltrevolutionär-internationalistisch begründeten Revolutionskonzepts W. I. Lenins und der Stalinschen Praxis eines nationalen Sozialismus.”
Die konsequentesten Anti-Stalinisten bestätigen damit auf ihre entstellende und verleumderi-sche Weise die Richtigkeit der Feststellung des großartigen französischen Schriftstellers und Kommunisten Henri Barbusse: “Stalin – das ist der Lenin unserer Tage!” (Henri Barbusse: Stalin – eine neue Welt. Rotfront Reprint, Berlin 1996, S.279).

4. Den fünfzigsten Jahrestag des Todes Stalins (5. März 2003) begingen die imperialistischen Medien mit geballten Ladungen von Artikeln und Serien über den “Jahrhundertverbrecher” Stalin, die – was man kaum für möglich halten konnte – noch alles übertrafen, was in den letzten fünfzig Jahren seit Stalins Tod an Hetze gegen ihn “geleistet” wurde.

Wie soll man sich diese alles bisher auf diesem Gebiet Gebotene weit in den Schatten stellende Orgie der Anti-Stalin-Hetze erklären?

Es gibt darauf nur eine Antwort: Die Sieger von gestern sind sich der Dauerhaftigkeit ihres Sieges nicht sicher, sie haben Furcht! Ja, sie fürchten den Einfluss des vor einem halben Jahrhundert verstorbenen Stalin auf die heute Lebenden! Sie erschrecken davor, dass noch immer und sogar immer mehr Menschen in Russland und den übrigen Staaten der früheren Sowjetunion bei ihren Demonstrationen Stalin-Bilder mit sich führen. Sie fürchten, dass die Verlierer von Gestern die Sieger von morgen oder übermorgen sein könnten. Diese Furcht sitzt offenbar auch Jakowlew im Nacken. Weshalb sonst sollte er – wie im “Neuen Deutschland” zu lesen, “das Erhalten von Lenin-Denkmälern” beklagen und – wie die FAZ aus seinem Buche zitiert – höchst beunruhigt und empört feststellen: “Und heute wohnen wir seelenruhig der Reinwaschung Stalins durch einige Behörden und Massenmedien bei!” ?

Die Sieger von gestern haben allen Grund zu dieser Furcht. Fünfzehn Jahre nach ihrem Triumph über den Sozialismus stecken sie in der tiefsten Krise ihres Systems: ökonomisch, politisch, sozial, kulturell, und nicht zuletzt: ideologisch. Immer deutlicher wird: die allgemeine Krise des Kapitalismus ist trotz der Niederlage des Sozialismus in Europa nicht überwunden, sondern dauert fort und vertieft sich. Und es wächst der Widerstand.

5. Ein Grund für die Furcht der Sieger von gestern ist mit Sicherheit auch die Erfahrung, dass es ihnen nicht gelungen ist, die Mehrheit der Jugend der ehemals sozialistischen Länder für sich zu gewinnen.

Das folgende Beispiel aus Ostdeutschland kann durchaus Gültigkeit auch für andere ehemals sozialistische Länder beanspruchen. Eine an der Leipziger Universität angefertigte und am 19. September 2002 auszugsweise im “Neuen Deutschland” veröffentlichte Studie macht deutlich:

Nachdem die DDR-Bürger 12 Jahre lang die Segnungen des realen, unverfälschten Kapitalismus über sich ergehen lassen mussten, haben selbst Jugendliche, die nur wenige Jahre noch als Bürger der DDR erlebt haben, die Erfahrung gemacht, dass die in der DDR herrschende sozialistische Gesellschaftsordnung – trotz ihrer fortgeschrittenen Deformation – menschenfreundlich war, die der Bundesrepublik dagegen dies ganz und gar nicht ist. In der Studie ist über die Ansichten der befragten Jugendlichen zu lesen:

“Für 91 Prozent der Befragten gab es vor der Wende mehr Sicherheit, nur 1 Prozent ist der Meinung, dies sei heutzutage besser. …Die Zukunftsfähigkeit des jetzigen Gesellschaftssystems schätzen sie als ziemlich gering ein, nur ein kleiner Teil hofft, dass dieses System für immer erhalten bleibt. … Die Distanz gegenüber dem kapitalistischen System geht mit einer zunehmenden Identifikation mit sozialistischen Idealen einher. … Sozialistisches Gedankengut sei nicht aus den Köpfen der jungen Ostdeutschen verschwunden.” (Entnommen meinem Aufsatz: “Der unsterbliche Frühsozialismus, in: “In den Trümmern ohne Gnade. Festschrift für Peter Hacks”, Eulenspiegel-Verlag, Berlin 2003, S.225)

6. Die Anti-Stalinisten haben bewirkt, dass seit einem halben Jahrhundert die wichtigsten marxistischen Werke nach denen von Marx, Engels und Lenin, die Werke Stalins, als Werke gelten, von denen ein anständiger Kommunist sich trennt und sie nie wieder in die Hand nimmt. Wie die Päpste die Schriften von “Ketzern” auf den Index setzten, so wurden die Schriften Stalins von den Führern der Parteien des “demokratischen” und “pluralistischen” Sozialismus und Kommunismus moralisch geächtet und also auf den Index gesetzt. (Mit den Werken Stalins, die durch diese Ächtung nach Chruschtschows Stalin-Verdammung auf dem Müll landeten, könnte man viele Bibliotheken füllen.).

Genau mit dem Beginn dieser Index-Zeit begann auch der Niedergang des Sozialismus und der kommunistischen Bewegung.

Zu den unabdingbaren Voraussetzungen für ihren neuerlichen Aufschwung gehört deshalb auch die massenhafte Hinwendung zum erneuten Studium der Werke Stalins, in denen der ganze Reichtum der Erfahrungen des erfolgreichen Aufbaus des Sozialismus auf den von Lenin gewiesenen Bahnen enthalten ist.

Dieser Vortrag wurde – ohne die Schlussbemerkungen – gehalten auf der von “Offensiv” veranstalteten Konferenz “Revisionismus der Totengräber des Sozialismus – von den Anfängen bis zur bitteren Niederlage”, Lesung und Diskussion mit Kurt Gossweiler und Harpal Brar, Berlin, 24. August 2002. Mit den Schlussbemerkungen wurde er am 2. Februar 2004 in einem von Gerald Hoff-mann organisierten Kurs “Aktuelle Fragen kommunistischer Theorie und Praxis im Lichte des Manifest der Kommunistischen Partei” vorgetragen. Veröffentlicht in “Offensiv – Zeitschrift für Sozialismus und Frieden, 2/2004, S. 35-56.