Harry Popow

Soldaten für den Frieden (Teil sechs)

Leseprobe aus „Ausbruch aus der Stille…“ von Harry Popow
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Harry Popow

Hier nun die sechste Leseprobe aus meinem neuen Buch »Ausbruch Aus Der Stille – Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten«, das im Februar dieses Jahres auf den Markt gekommen ist. Bitte benutzt auch die Kommentarfunktion für Eure Kritiken und Einschätzungen.
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»Geologen-Zeit

September des Jahres 1954. Schwerin. Schmalbrüstige Straßen. Herbstluft. Neuer Arbeitsort für Henry: Ein zweistöckiges kleines Gebäude in der Schlossstraße. Ein schmales Arbeitszimmer für Henry. Seine Aufgabe: Erste physikalische Bodenuntersuchungen vorzunehmen. Die Bodenproben haben Mitarbeiter herbeigeschafft und in kleinen Kartons verstaut. Daraus entnimmt Henry die Steine oder Erdklumpen. Er tröpfelt verdünnte Salzsäure darauf. Wenn es schäumt, ist Kalk drin. Er untersucht, registriert, füllt in Reagenzgläser ab und beschriftet sie. Viel auf Reisen. In einem kleinen Heftchen – seine ersten Tagebucheintragungen – hält er folgendes fest: Von der Geologischen Kommission bekommen – Rucksack, Kartentasche, Regenmantel, Gummianzug, Gummistiefel, hohe Lederschuhe. Notwendige Ausrüstung für den kartierenden Geologen (ohne Zeltübernachtung): Derbe Kleidung (Gummistiefel, Reithosen, Skihosen), Kartentasche, Geologenrucksack, Bleistift, Zeichenblock, Notizbuch, Messtischblatt, Geologenhammer, gute Lupe, Erdbohrer, Nähzeug usw. Kartentasche habe ich schon, Gummistiefel noch nicht und vieles andere.

Buch-Cover Ausbruch aus der Stille von Harry Popow – Mit freundlicher Genehmigung des Autors

Wohne in der Buchholzallee, einem Einfamilien-Reihenhaus, sein Zimmer befindet sich gleich im Parterre links. Seine Vermieter sind ältere und fortschrittliche Leute, er aber säuft. Henrys Sparplan: 209 DM monatliche Einnahmen. Davon 40 DM für Kost, 25 DM für Miete (1 Zimmer), 17 für Mittagessen, 10 für Beiträge, 50 für Mama, Rest eventuell zum Sparen. Küchenrezepte für Ledige mit Einzelzimmer: 1. Bratkartoffeln mit Ei usw. 2. Pellkartoffeln mit Fisch und Gurkensalat. 3. Fleischsalat und Brot. 4. Käse. 5. Eierkuchen. 6. Obstsuppe. 7. Büchsenfleisch. 8. Wurst – Butter – Brot. Auf der Lebensmittel-Zusatzkarte D bekommt er 1950 Gramm Fleisch und 1300 Gramm Fett. Er rechnet sich aus, wie viel er alle zwei Tage verbrauchen darf. Und ist trotzdem sehr zufrieden. Der tägliche Weg durch den bunten herbstlichen Park und am Schloss vorbei, in dem ein Pädagogisches Institut (Mädchen vor allem) untergebracht ist, der Duft nach Laub, seine vielen Spaziergänge am Wochenende, seine kleine Freiheit. Am Schloss hat er eine Zeichnung angefertigt. Aber alleine sein und ausgehen ist großer Mist, findet er. Wenn er in einem Tanzlokal sitzt, ist er verklemmt, mimt, mit einem Skizzenblock bewaffnet, den französischen Maler Henri de Toulouse-Lautrec, denn er fühlt sich so blöd, einfach so nach den Mädchen zu gieren … Am 27.9. will er sich in der Volkshochschule anmelden – Fach Geologie.

Der Kollektor bekommt Post. Seine Mama schreibt ihm: „Deine 50,- DM haben wir bekommen, ich habe nur Angst, das du selbst zu wenig Geld hast, um so essen zu können, wie es in Deinem Alter unbedingt sein muss. Schreibe mir, wo du Dein Mittag bekommst … muss ich denn immer bei Dir betteln, dass Du mir etwas mehr schreibst? Über alles,- nicht nur über Schönheiten der Natur …“ Im gleichen Brief einige Zeilen auch von Schwester Sophia: „Im Übrigen solltest Du Dich nicht so viel mit Mädchen abgeben, denn ich bin auch noch da u. mit mir Ingrid, weißt Du, die uns gegenüber im Hinterhaus wohnt. Sie hat sich in Dich bis über beide Ohren verliebt … Ich habe in Mathematik mündlich schon eine Eins bekommen. Das wären 0,50 DM, stimmt’s? Die brauchst Du mir aber nicht zu schicken. Es ist bloß zu Deiner Information.“

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Henry notiert weiter: Am 23. September in der Frühe 04 Uhr mit dem BMW der Außenstelle nach Richtenberg gefahren und weiter nach Binz auf Rügen. Dort „Aufnahme“ gut geglückt. Das heißt, wir haben ein Stück des Hochufers mit weißen „Binden“ verklebt, von der Wand abgenommen, eingerollt, im Auto verpackt und mit nach Schwerin genommen zur weiteren geologischen Untersuchung. Gutes Wetter, herrliche Gegend. In Göhren übernachtet. Am ersten Abend tanzen gewesen. Am 25. zum Wildland bei Groß Zicker. Ödland. Kein Mensch. Nur Gesträuch, Bäume, Gräser, Steilküste und viele Fossilien. Wildland war mal bewohnt. Es wurden drei Steinbeile gefunden. An der Küste wieder eine kleine Bleistiftzeichnung angefertigt.

Henry ist glücklich. Er hat eine tolle Arbeit, und er würde auch gerne studieren. Das ist kein Traum. Er bewirbt sich in Freiberg im Erzgebirge. Bald kommt eine positive Antwort. Es ist Anfang Oktober. Er soll zur Aufnahmeprüfung: Lagerstättenkunde, Mineralogie, historische, regionale und angewandte Geologie, Aufbau des Meeres, Tektonik. Das Studium der Geologie kann im nächsten Jahr beginnen. Bis dahin: Arbeiten und büffeln – büffeln und arbeiten. Henry ist ganz bei der Sache. Nach der Rückkehr nach Schwerin jedoch ein „Überfall“. Zwei unbekannte Männer wollen mit ihm sprechen. Sie sitzen vor ihm in „seinem“ Labor. Sie kommen vom Wehrkreiskommando (hieß damals wohl anders). Sie lächeln, sind ausgesucht nett. Er, Henry, könne bei der Kasernierten Volkspolizei Militärgeologie studieren, dazu müsse er nach Erfurt und drei Jahre die Offiziersschule besuchen. (Sehr viele Jahre später wird er in einem geschichtlichen Abriß nachlesen: In den ersten drei Monaten des Jahres 1954 wurden nur 27 Prozent der Jahresaufgabenstellung für die Auffüllung der KVP erreicht …)

Das Angebot der beiden Männer klingt verlockend. Geologe sein und Offizier noch dazu! Henry fühlt sich sehr persönlich angesprochen: „Ausgerechnet mich will man haben, mich, den ruhigen Typ?“ Fühlt er sich geehrt? Sieht er noch eine größere Chance als die bisherige in Aussicht genommene Laufbahn? Zum Beispiel so richtig eingebunden zu sein in einer großen festgefügten Gemeinschaft? Sucht er Halt? Braucht er den? Er will Bedenkzeit. Und so geht dem noch Siebzehnjährigen die Frage durch den Kopf, ob er nach der Offiziersschule zum Studium nach Freiberg überwechseln könne? Wenn nicht, so seine naive Vorstellung, will er erst zum Geologiestudium. Seine Bedingung außerdem: Zu Weihnachten will er zu Hause sein in Leipzig bei seiner Mutter und seinen Geschwistern Sophia und Axel. „Aber selbstverständlich,“ antworten Tage später die Werber. Ein älterer Mitarbeiter der Außenstelle betritt darauf das kleine Arbeitszimmer des Henry und gibt dem sehr viel jüngeren Mitarbeiter zu bedenken, nach spätestens zwei Jahren hätte er das Militär gründlich satt. Henry hat seine eigene Meinung. Er denkt: „Will der mich abhalten?“ Das geht ihm irgendwie gegen den Strich. Soviel weiß er schon, nicht alle Leute sind für „unseren Staat“. Von Papa erhält Henry einen Brief. Er schreibt, Angehöriger unserer KVP zu sein sei „eine große Ehre und Verpflichtung“. Natürlich könne man als Geologe seiner Gesellschaft „auch sehr viel geben“. Also klar: Er muss schon selber wissen, was er will. Gegen die Gesellschaft hat er nichts. Im Gegenteil: Menschliches ist hier gewiß gut aufgehoben. Das entspricht seinem inneren Gefühl, seinem Bild von einem vernünftigen Leben. Er sagt zu. Mitte November soll es losgehen. Und in seinem Notizheft hält er fest: „Voll Hoffnung und mit frohem Glauben, Geh aufs Ganze, verzage nicht, Vorwärts …“, so schreibt A.S. Puschkin in ‚Ruslan und Ludmilla‘.

Siebenter Oktober – Tag der Gründung der Republik. Feiertag, arbeitsfrei. In der Schlossstraße spricht man von „Wachsamkeit“ gegenüber Provokationen. Es wird Vorsorge getroffen, dass niemand die Außenstelle irgendwie „stört“. Man teilt auch den jungen Mitarbeiter zur Wache ein, von 20 bis 22 Uhr. Was er zu tun hat, wenn jemand „was will“, weiß er nicht, aber er fühlt sich gut, weil man ihm vertraut. Später erst wird er in einer Beurteilung lesen, dass dies sozusagen sein erster Einsatz in der Kampfgruppe war, den er auch gut bestanden hätte. Noch bevor er sich in den Zug setzt, der ihn nach Erfurt führen soll, schreibt seine Mutter ihm u.a. die folgenden Zeilen:

„Nun, mein guter, bester Junge, was macht KVP, – schon da gewesen? Frau Gerda Müller war bei mir gestern, die war in Westen vier Wochen, die sagt das Wehrpflicht in Westen ist beschlossene Sache. Diese Scheißdreck fehlt uns noch zum vollen Glück. Man weiß nicht, was nun zu tun ist …“
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Zum Inhalt

Ausgangssituation ist Schweden und das Haus, in dem die Ziebells wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.

Die Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine spätere Frau kennenlernte.

Wie lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr, für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als einfacher Arbeiter tätig zu sein.

Durch Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz. Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken. Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.

Die spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989 seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen, sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die erwarteten Schlussfolgerungen zieht.

Nach der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach Schweden.

Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien, politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen Deutschland ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender! «


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Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro.
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Über den Autor: Geboren 1936 in Berlin Tegel, erlebte Harry Popow (alias Henry) in seinem Buch „Ausbruch aus der Stille“) noch die letzten Kriegsjahre und Tage. Ab 1953 war er Berglehrling im Zwickauer Steinkohlenrevier. Eigentlich wollte er Geologe werden, und so begann Harry Popow ab September 1954 eine Arbeit als Kollektor in der Außenstelle der Staatlichen Geologischen Kommission der DDR in Schwerin. Unter dem Versprechen, Militärgeologie studieren zu können, warb man ihn für eine Offizierslaufbahn in der KVP/NVA. Doch mit Geologie hatte das alles nur bedingt zu tun… In den bewaffneten Kräften diente er zunächst als Ausbilder und danach 22 Jahre als Reporter und Redakteur in der Wochenzeitung „Volksarmee“. Den Titel Diplomjournalist erwarb der junge Offizier im fünfjährigen Fernstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Nach Beendigung der fast 32-jährigen Dienstzeit arbeitete er bis Ende 1991 als Journalist und Berater im Fernsehen der DDR. Von 1996 bis 2005 lebte der Autor mit seiner Frau in Schweden. Beide kehrten 2005 nach Deutschland zurück. Sie sind seit 1961 sehr glücklich verheiratet und haben drei Kinder, zwei Enkel und zwei Enkelinnen.

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Dabei muss es sich nicht grundsätzlich um die Meinung der Redaktion handeln.

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