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0 Jahre Israel

Autor Fiete Jensen

Fiete Jensen

„Des einem Freud ist des anderen Leid“ lautet ein deutsches Sprichwort, das wie die Faust auf’s Auge auf das Verhältnis von Israel und Palästina passt. 70 Jahre ist es nun her das in Palästina der Staat Israel gegen jede Vernunft gegründet wurde. Jede Freude, der nach einer Heimat und Sicherheit suchenden Juden, musste mit einem Leid des palästinensischen Volkes bezahlt werden.

Gestern am 70. Nakba-Gedenktag und am Tag davor, wurden erneut 109 Palästinenser in Jerusalem, im Gazastreifen und im Westjordanlandvon von der israelischen Armee ermordet! Israels Präsident Netanjahu spricht arrogant von einem »glorreichem Tag« – Im Westjordanland antworteten die Palästinenser mit einem Generalstreik!

 

Trauer um die Toten: Bis heute stieg die Zahl der Ermordeten auf 109
Foto: Mahmoud Ajour/APA Images via ZUMA Wire/dpa


Der Apartheidstaat Israel, getragen von der nationalistisch/zionistischen Ideologie und einem brutalen kapitalistischen Unterdrückerstaat wurde errichtet und wird am Leben erhalten durch das vergossene Blut von tausenden von Palästinensern. Da gibt es nichts zu feiern! Im Boden verkriechen sollten sich all diejenigen die die brutale Vertreibung, Ermordung und Unterdrückung von Palästinensern auf ihrem Land angeordnet, vollzogen und geduldet haben. Ja, auch ein großer Teil der Bevölkerung Israels ist mitschuldig, weil sie nichts gegen die Vertreibungen, die Vernichtungen ganzer Ortschaften und die agressive Siedlungspolitik auf besetztem Land unternommen haben und ihren Wohlstand auf dem Rücken, der geschundenen und gedemütigten Palästinensern aufbauten und heute noch aufbauen.
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Die Redaktion AmericanRebel wird, beginnend mit den nachfolgenden Artikeln, im Laufe diese Jahres Artikel veröffentlichen, die sich mit der Existenz Israels und dem mutigen Kampf der Palästinenser für ihre Selbstbestimmung befassen. Aber auch der demokratischen Kampf gegen das Apartheidsystem, der Widerstand gegen das kapitalistische Unterdrückerregime und die Gängelung des israelischen und palästinensischen Volkes durch die rassistische Regierung in Israel, wir beleuchtet.

Es werden neue Artikel sein aber auch ältere „Grundsatzartikel“ die bestimmte Erscheinungsformen und Verhältnisse erklären. Einige Artikel werden erheblich länger sein als unsere Leser/innen es von uns gewohnt sind, doch komplexe Sachverhalte erfordern auch ihren Platz bei der journalistischen Betrachtung. Es wird für jede/n etwas dabei sein und wir bitten unsere Autoren/-innen ihre Texte mit Unterüberschriften gut zu Gliedern. Wem das noch nicht genügend Informationen sind, stehen die Literaturhinweise und Links unserer Autoren/-innen und der Redaktion zur Verfügung.

Auch die Leser und Leserinnen von AmericanRebel bitten wir zur Vervollständigung dieser Artikelsammlung um ihre Hilfe. Sendet uns eure eigenen Artikel, weist uns auf gute Artikel hin und nutzt die Möglichkeit Kommentare an diese Seite anzuhängen!

Wenn neue Artikel dieser Sammlung hinzugefügt werden, wird dieses wie gewohnt in der Facebookgruppe angekündigt. ihr findet sie dann immer unter diesem Text also immer ganz oben in der Artikelsammlung.

Fiete Jensen, 15. Mai 2018
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Inhalt

Tsafrir Cohen Gegen den Strom – was bewegt israelische Aktivistinnen anno 2018?
Reut Michaeli Profit auf dem Rücken von Arbeitsmigrant*innen – Die Methode der Ausbeutung
Julius Jamal Israel-Preisträgern fordern Anklage wegen kriminellem Massaker
Tsafrir Cohen Die andauernde Nakba
Arn Strohmeyer 70 Jahre Israel – 70 Jahre Siedlerkolonialismus und Krieg gegen Palästinenser
Rolf Verleger Besetztes Land
Julius Jamal 69 Jahre Nakba – Zeit, das Schweigen zu brechen
Jensen/Todenhöfer Wem gehört das Land?

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Tsafrir Cohen

Gegen den Strom – was bewegt israelische Aktivistinnen anno 2018?

Tsafrir Cohen

Das Streben nach Gleichberechtigung verbindet uns jenseits der partikulären Identität miteinander“. Im heruntergekommenen Süd-Tel Aviv stellt sich Shula Keshet an die Seite der Schwächsten der Gesellschaft & leistet Widerstand gegen zunehmende Gentrifizierung & Ausländerfeindlichkeit. Ihre Vision besteht darin, im verarmten Süden der Stadt gemeinsam mit Alteingesessen & Geflüchteten eine bessere Zukunft aufzubauen. Aus der Interviewreihe des Rosa Luxemurg Stiftung – Israel Office zu 70 Jahre Israel“. Nachfolgend findet ihr die vollständugen Interviews.


Frauen verändern die Welt – auch in Israel! Bei den Kämpfen äthiopischer Juden und Jüdinnen gegen Polizeigewalt oder in progressiver Aufklärungsarbeit innerhalb der russischsprachigen Community, in der Bewegung für ein Ende der Besatzung oder für die Rechte Geflüchteter übernehmen Frauen eine führende Rolle. In den folgenden Interviews teilen fünf israelische Aktivistinnen ihre Erfahrungen mit Rassismus und Sexismus, berichten über ihre politische Arbeit und erzählen von der ambivalenten Beziehung zum Staat und von ihren Hoffnungen für die Zukunft.
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„Jeder Polizist weiß, dass er mit uns alles machen kann“

Interview mit Tigist Mahari

Als Kind zog Tigist Mahari mit ihrer Familie aus Äthiopien nach Israel und beteiligt sich heute unter anderem aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen an Demonstrationen gegen Polizeigewalt und Diskriminierung. Ihr wichtigstes Ziel ist es, die verschiedenen benachteiligten Gruppen in der israelischen Gesellschaft zu vernetzen.
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„Ich will diesem Staat nicht als Make-up dienen“

Interview mit Samah Salaime

Als palästinensische Sozialarbeiterin in Israel kämpft Samah Salaime an vielen Fronten, indem sie kontinuierlich patriarchale und rassistische Strukturen herausfordert und eine Kampagne gegen eine Mordwelle an arabischen Frauen im Zentrum des Landes anführte. Der Kampf für Gleichberechtigung kann in ihren Augen nur radikal geführt werden.
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„Das Streben nach Gleichberechtigung verbindet uns jenseits der partikulären Identität miteinander“

Interview mit Shula Keshet

Im heruntergekommenen Süd-Tel Aviv stellt sich Shula Keshet an die Seite der Schwächsten der Gesellschaft und leistet Widerstand gegen zunehmende Gentrifizierung und Ausländerfeindlichkeit. Ihre Vision besteht darin, im verarmten Süden der Stadt gemeinsam mit Alteingesessen und Geflüchteten eine bessere Zukunft aufzubauen.
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„Es ist überwältigend in Jerusalem zu leben“

Interview mit Sahar Vardi

Die gebürtige Jerusalemerin und Kriegsdienstverweigerin Sahar Vardi engagiert sich seit ihrer Jugend in Initiativen gegen die Besatzungspolitik der israelischen Regierung. Gemeinsam mit den Bewohner*innen Ost-Jerusalems kämpft sie für eine gerechte Stadt von unten.
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„Wenn es euch hier nicht passt, dann geht doch zurück nach Russland“

Interview mit Sonya Soloviov

In Kiew geboren und in Israel aufgewachsen, setzt sich Sonya Soloviov für eine feministische Erneuerung der russischsprachigen Community Israels ein und widerspricht der Annahme, Migrant*innen aus der Sowjetunion seien per se für progressive Bewegungen nicht offen.

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Zuerst erschienen am 27. April 2118 bei RLS Israel office

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers
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Reut Michaeli

Profit auf dem Rücken von Arbeitsmigranten/-innen – Die Methode der Ausbeutung

Reut Michaeli

Die Beschäftigung von Arbeitsmigranten/-innen in Israel unterliegt einem Regime von Arbeitsgenehmigungen und Quoten – von dem viele profitieren, außer der Arbeiter/innen.
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Historischer Hintergrund

Das Phänomen der Arbeitsmigration gibt es schon sehr lange: Männer und Frauen verlassen ihre Heimatländer, in denen sie ihren Lebensunterhalt nicht oder nur schlecht bestreiten können. Und so suchen sie nach einem anderen Land, um zu überleben und/oder um ihren Lebensstandard zu verbessern. Bisweilen unterstützen sie auf diese Weise auch ihre Familien finanziell, die sie zurückgelassen haben. Israel ist ebenfalls ein Ziel für Arbeitsmigranten/-innen geworden und insofern unterscheidet es sich nicht von anderen Ländern.

Protest von ArbeitsmigrnatInnen, Tel Aviv, 2014, (Foto: Activestills)

Bis zu Beginn der 1990er Jahre waren in Israel palästinensische Arbeiter/innen aus den besetzten Gebieten in der Westbank und im Gazastreifen beschäftigt. Infolge der Abriegelungs- und Trennungspolitik der israelischen Regierung gegenüber den Palästinenser/innen in den besetzten Gebieten mangelte es an Arbeitskräften im Baugewerbe, in der Industrie und der Landwirtschaft. Daraufhin ergriff die israelische Regierung Maßnahmen, um die palästinensischen Arbeiter/innen in diesen Branchen durch Arbeitsmigranten/-innen (die von den Behörden als „fremde/ausländische Arbeiter“ bezeichnet werden) zu ersetzen. Im Zuge der Privatisierung des Gesundheitswesens in Israel wurden Arbeitsmigranten/-innen überdies dazu „eingeladen“, auch im Pflegebereich zu arbeiten. Dies geschah, nachdem sich israelische Arbeitskräfte geweigert hatten, unter den branchenüblichen Bedingungen (sehr schwere Arbeit rund um die Uhr zu schlechten Konditionen und niedrigen Löhnen) zu arbeiten.

Die Beschäftigung von Arbeitsmigranten/-innen in Israel unterliegt einem Regime von Arbeitsgenehmigungen und Quoten (nur im Pflegebereich gibt es keine Beschäftigungsquoten für AArbeitsmigranten/-innen). Die Anzahl der Genehmigungen ist seit Beginn dieser Praxis Anfang der 1990er Jahre stetig gewachsen: Während im Jahr 1993 weniger als 20.000 solcher Genehmigungen erteilt wurden, war ihre Zahl 1996 bereits auf 106.161 gestiegen. Israel kletterte bald an die Spitze der Liste westlicher Länder, die Arbeitsmigranten/-innen „importieren“: Im Jahr 2001 befanden sich in Israel circa 250.000 Arbeitsmigranten/-innen.

Thailändische Arbeiter*innen bei einem Treffen mit der Organisation KavLaOved, die sich für die Arbeitsrechte von Arbeitsmigrant*innen einsetzt, Moschaw Achituv, Israel, 13.7.2013. (Foto: Activestills)

Seit Mitte der 1990er Jahre versuchte die israelische Regierung, ihre Anzahl durch Verhaftungen und Abschiebungen zu reduzieren. Zehntausende Arbeitsmigranten/-innen wurden aus Israel abgeschoben oder verließen das Land „freiwillig“ angesichts der Androhung von Inhaftierung oder Abschiebung ihrer Familienmitglieder. Im Jahr 2002, im Zuge der Zweiten Intifada und der anschließenden Wirtschaftskrise, beschloss der damalige Premierminister Ariel Scharon die Massenabschiebung von ausländischen Arbeiter*innen und die Einrichtung der „Behörde für Migration“, einem Exekutivorgan, das dafür zuständig ist, „illegale Ausländer“ festzunehmen und abzuschieben. Die eigens eingerichtete Behörde ging in den Jahren 2002 bis 2004 in einer groß angelegten Operation gegen Arbeitsmigrant*innen ohne Aufenthaltsgenehmigung vor. Menschen wurden bei der Arbeit verhaftet, auf der Straße und im Bus. Verhaftungen fanden in Wohnungen statt, meist in der Nacht, und oft unter Anwendung von Gewalt. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum mehr als 100.000 Arbeitsmigrant*innen aus Israel abgeschoben oder dazu gebracht, das Land zu verlassen.

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Die Maßnahmen der Verfolgung und Abschiebung haben Israel nicht daran gehindert, die abgeschobenen Arbeiter*innen durch den „Import“ von neuen zu ersetzen. Im März 2016 waren in Israel 74.369 Arbeitsmigranten/-innen mit gültigem Visum gemeldet und circa 16.400 Arbeitsmigrant*innen beschäftigt, die zwar legal ins Land eingereist sind, aber aus verschiedenen Gründen ihre Aufenthaltsgenehmigung verloren haben. Darüber hinaus leben in Israel ungefähr 90.000 Touristen/-innen (meist aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion), deren Visum abgelaufen ist.[1]
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Einwanderung ohne Politik und ohne Rechte

Israel hat keine klare Einwanderungspolitik und in vielerlei Hinsicht ist das Fehlen einer solchen Politik auch eine Politik. In Ermangelung einer systematischen Gesetzgebung, die die Fragen der Einwanderung nach Israel regelt, liegt es im Ermessen des Innenministers und seiner Ministerialbeamten/-innen, die Politik zu bestimmen. Ihr Ermessensspielraum ist dabei groß und auch ihre Möglichkeiten, ihre Politik immer wieder zu verändern, sind vielfältig – während die Kontrollmöglichkeiten durch Parlament und Gerichte minimal sind. Infolgedessen ist Arbeitsmigration in Israel durch eine Politik der Misshandlung gekennzeichnet, die Arbeitsmigranten/-innen im Dienste des wirtschaftlichen Nutzens instrumentalisiert. Arbeitsmigranten/-innen gehören deshalb in Israel zu einer Gruppe von Menschen, die ungeschützt ist, übersehen, marginalisiert und ausgebeutet wird.

Gemäß dem Gesetz, das die Einreise nach Israel regelt, dürfen Arbeitsmigrant*innen fünf Jahre und drei Monate im Land arbeiten. Zweck dieser Beschäftigungspolitik ist es, Migranten/-innen daran zu hindern, hier Fuß zu fassen und Israel zu ihrem Lebensmittelpunkt zu machen, und eine instabile und unsichere Lebenssituation zu fördern. Dazu gehört auch, dass Arbeitsmigranten/-innen in Israel, im Gegensatz zur Praxis in anderen Ländern, keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus (permanente Aufenthaltsgenehmigung oder Staatsbürgerschaft) erlangen können, selbst dann nicht, wenn sie über viele Jahre im Land legal gearbeitet und sich keinerlei Vergehen schuldig gemacht haben. All dies geschieht aus demografischen Gründen, um – so die offizielle Position – den jüdischen Charakter des Staates Israel zu schützen. In diesem Zusammenhang wird die Regierung nicht müde, immer wieder – auch vor Gericht – zu erklären, dass Israel kein Einwanderungsland und das Rückkehrgesetz das einzige Einwanderungsgesetz Israels sei. Jede andere permanente Aufenthaltsgenehmigung, die einem Menschen in Israel gewährt wird (mit Ausnahme der Staatsbürgerschaft für Ehepartner/innen), wird vom Staat als ein aus humanitären Gründen verliehener Status definiert.[2]

Arbeitgeber/-innen, die Genehmigungen zur Anstellung von Arbeitsmigrant*innen erhalten haben und nun solche Arbeitskräfte suchen, sowie Arbeitsmigranten/-innen, die bereits in ihrem Heimatland eine/n Arbeitgeber/in finden müssen (da sie sonst keine Einreiseerlaubnis erhalten), wenden sich an Firmen, die Arbeitskräfte vermitteln. Diese Firmen stellen den Kontakt zwischen den Arbeitgeber/innen und den Arbeitnehmer*innen her, wofür sie eine Vermittlungsgebühr verlangen.

Noch bevor sie nach Israel kommen, müssen Arbeitsmigranten/-innen deshalb lokalen Vermittlungsfirmen oder Vertreter*innen israelischer (Vermittlungs-) Firmen vor Ort im Voraus zwischen 5.000 und 15.000 US-Dollar (ca. 4.550–13.650 Euro) oder sogar mehr bezahlen. Die Höhe der zu zahlenden Summen verstößt gegen das israelische Recht, wonach von Arbeitsmigranten/-innen höchstens 3.135 Schekel (ca. 810 US-Dollar/737 Euro) pro Person als Vermittlungsgebühr verlangt werden dürfen, um ihn/sie aus seinem/ihrem Ursprungsland nach Israel zu bringen. Die Höhe der zu zahlenden Summe zwingt die Arbeiter*innen dazu, Geld zu leihen und ihre Zukunft für das Recht, in Israel zu arbeiten, zu verpfänden; dies vergrößert ihre Abhängigkeit von ihren jeweiligen israelischen Arbeitgeber/innen und unweigerlich auch ihre Schutzlosigkeit vor Ausbeutung, Unterdrückung und Misshandlung.

Die fehlende Durchsetzung des Rechts und/oder die begrenzte oder ineffektive Ahndung von Verstößen gegen Schutzgesetzte und Arbeitsrechte, die deshalb keine abschreckende Wirkung entfalten kann, befördern das kriminelle Verhalten gegenüber Arbeitsmigranten/-innen und erlauben es Arbeitgeber/-innen, Arbeitsmigranten/-innen im großen Stil und ungestraft auszubeuten. Darüber hinaus trägt diese Praxis dazu bei, dass in den Branchen, in denen Arbeitsmigranten/-innen tätig sind, Beschäftigungsstandards, die die Interessen und Rechte der Arbeiter/innen stark beeinträchtigen, entstehen und sich ausbreiten.

Auf dem Papier haben Arbeitsmigranten/-innen einen Anspruch auf dieselben Rechte, die auch israelischen Arbeiter/innen zustehen, einschließlich Mindestlohn, Rentenversicherung, Urlaub und Erholung, sowie auf eine Vielzahl von zusätzlichen gesetzlich geregelten Schutzmechanismen, die darauf abzielen, ausländische Arbeitnehmer/innen vor Ausbeutung zu schützen (wie zum Beispiel die Regelung, die es Arbeitgeber/innen verbietet, der Arbeitskraft den Reisepass wegzunehmen, oder die Pflichten der Arbeitgeber/innen in Bezug auf die Unterbringung der Migranten/-innen). In der Praxis aber ignoriert die Einwanderungsbehörde, die eigentlich für die Sicherheit dieser Menschen verantwortlich ist, die grundlegendsten Bedürfnisse der Arbeitsmigrant*innen.

Die erste Abschiebung von einem in Israel geborenen Kind einer Arbeitsmigrantin. Tel Aviv, Israel, 16.8.2011 (Foto: Activestills)

Eines der deutlichsten Beispiele dafür ist die Beschneidung des Familienlebens von Arbeitsmigranten/-innen durch die Politik des israelischen Innenministeriums. Über viele Jahre hinweg wurde es Arbeitsmigranten/-innen verboten, nach einer Entbindung weiterhin in Israel zu arbeiten, es sei denn, sie schickten die neugeborenen Kinder in ihre Heimatländer. Auch hinter dieser Praxis stehen die Absicht, die Ansiedlung von Arbeitsmigrant*innen zu verhindern, und die Befürchtung, dass eine Familie in Israel gegründet wird. Im Rahmen eines Gerichtsverfahrens, das von der Hotline für Flüchtlinge und Migrant*innen[3] (damals noch unter dem Namen: Hilfszentrum für ausländische Arbeiter*innen), Kav LaOved – Worker’s Hotline,[4] ACRI[5] (Vereinigung für Bürgerrechte in Israel) und anderen Organisationen angestrengt wurde, heißt es in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs: „Wird eine Frau gezwungen, zwischen Weiterbeschäftigung, als Verwirklichung von legitimen wirtschaftlichen Erwartungen, und der Realisierung ihres Rechts auf Mutterschaft zu wählen, steht dies im Widerspruch zu den moralischen und verfassungsrechtlichen Grundsätzen der israelischen Gesellschaft. Werden die besagten Alternativen auf jene Weise geboten, stellt dies in erster Linie einen Verstoß gegen das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Mutterschaft der ausländischen Arbeiterin dar.“[6]

Infolge dieses Urteils verlangt das Innenministerium nun nicht mehr, dass neugeborene Kinder aus Israel ausreisen. Jedoch haben viele Migranten/-innen, die sich um ein Kleinkind kümmern, Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Anstelle der Praxis, die aufgehoben wurde, hat das Innenministerium eine neue eingeführt: Sie verbietet in Israel „Familieneinheiten“, denen zwei Arbeitsmigrant*innen angehören. Das gilt auch dann, wenn sie gemeinsame Kinder haben. Sobald das Innenministerium von der Existenz einer solchen „Familieneinheit“ erfährt, wird eine/r der beiden Partner/innen aufgefordert, sie zu verlassen; falls er/sie dies nicht tut, drohen ihr/ihm Inhaftierung und Abschiebung.

Arbeitsmigranten/-innen werden auch dadurch beeinträchtigt, dass das Innenministerium sie bei der Vergabe des Visums an eine/n spezifischen ArbeitgeberIn bindet: Im Visum, das dem/der ArbeiterIn gewährt wird, steht der Name des Arbeitgebers bzw. der Arbeitgeberin; es verliert seine Gültigkeit, sobald der/die ArbeiterIn nicht mehr für diese/n ArbeitgeberIn arbeitet. Falls der/die ArbeiterIn ohne Genehmigung den/die ArbeitgeberIn verlässt (und selbst im Falles des Todes des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin), ist das Visum nicht mehr gültig und die Arbeitskraft muss Israel verlassen, andernfalls drohen Inhaftierung und Abschiebung. Im Jahr 2006 entschied der Oberste Gerichtshof in Israel, dass diese Beschränkungspolitik verfassungswidrig ist und aufgehoben werden muss. Das Gericht kritisierte die Regierungspolitik scharf und urteilte, dass die Beschränkung moderner Sklaverei gleichkomme. Es forderte die Regierung auf, neue Regelungen für den Pflegebereich, die Landwirtschaft und die Industrie innerhalb von sechs Monaten ab Urteilsverkündung festzulegen. Bislang ist diesbezüglich nichts passiert. Auch einer von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen[7] eingereichten gerichtlichen Eingabe gegen die Missachtung des Gerichtsurteils aufseiten der Exekutive gelang es nicht, die Aufhebung der Beschränkungspolitik zu erwirken. Mittlerweile konnte ein starker Rückgang der Genehmigungsquoten für Bauarbeiter und die Regelung der Anstellung über spezielle Unternehmen die Arbeitsbedingungen für Beschäftigte in diesen Bereichen verbessern. Bilaterale Abkommen zwischen dem Staat Israel und Thailand, dem Land, aus dem die meisten in der Landwirtschaft arbeitenden Migranten/-innen kommen, haben die Bedingungen der „Imports“ dieser Arbeiter*innen und ihren Schutz geringfügig verbessert, nach wie vor sind die Arbeiter/innen aber an ihre Arbeitgeber*innen gebunden. Sie können nur dann von einem/r Arbeitgeber/in zu einem/r anderen wechseln, wenn auch der/die neue Arbeitgeber/in eine Genehmigung besitzt, Arbeitsmigrant*innen zu beschäftigen. Die Anzahl solcher Wechsel ist ebenfalls beschränkt. Oft haben Beschäftigte, die ihre Arbeitgeber*innen verlassen, Schwierigkeiten, neue zu finden.
Im Pflegebereich ging der Staat weiter und kündigte an, dass er dem Gerichtsurteil nicht Folge leisten werde. Zu diesem Zweck wurde ein spezielles Gesetz verabschiedet, das es ermöglicht, auch weiterhin die in der Pflege tätigen Arbeiter/innen (die absolute Mehrheit der in diesem Bereich in Israel arbeitenden Personen sind Frauen) an ihre Arbeitgeber/innen zu binden und ihnen darüber hinaus auch geografische Beschränkungen aufzuerlegen.

Die Fortsetzung dieser Beschränkungspolitik bedeutet die anhaltende Verletzung der Rechte der Arbeitsmigranten/-innen und begünstigt eine Entwicklung, die dazu führt, dass Menschen unter den Bedingungen der Sklaverei und des Menschenhandels arbeiten.

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Der öffentliche Diskurs – Nationalismus, Ausgrenzung und Xenophobie

Arbeitsmigranten/-innen werden von der Regierung, den staatlichen Behörden und selbst vom Großteil der Öffentlichkeit „fremde (ausländische) Arbeiter“ genannt. Das ist kein Zufall. Die Verwendung des Wortes „fremd“ hebt hervor, dass diese Menschen nicht als Teil der israelischen Gesellschaft angesehen werden, sondern als billige temporäre Arbeitskräfte. Und dies geschieht in einer Zeit, in der andernorts auf der Welt der Begriff Arbeitsmigrant*innen (statt fremde Arbeiter*innen oder Gastarbeiter*innen) geläufig ist. Dieser Begriff gilt als inklusiver und offener. Zweifellos ist die Terminologie Ausdruck einer gesellschaftlichen Auffassung, die Arbeiter*innen marginalisiert, und insbesondere Arbeiter*innen, die nicht israelisch und nicht jüdisch sind. Die Marginalisierung der Arbeiter*innen ist Ausdruck ihrer Stellung in der wirtschaftlichen „Nahrungskette“, auch ihrer physischen Verortung in der Gesellschaft. Sie sind verpflichtet, die Ware zu liefern, sollen aber aus dem Blickfeld verschwinden. In der Öffentlichkeit sind sie kaum sichtbar. Nicht umsonst werden Arbeitsmigranten/-innen in Bereichen beschäftigt, in denen sie relativ wenig mit der israelischen Gesellschaft in Berührung kommen. Das erschwert das Entstehen sozialer Beziehungen sehr. Bauarbeiter arbeiten auf Baustellen, auf denen sich Israelis in der Regel nicht aufhalten, unter anderem aus Gründen der Sicherheit. Arbeiter/innen in der Landwirtschaft befinden sich meist in Moschawim und Kibbuzim, in geografischen Randgebieten, während sich die in der Pflege beschäftigten Arbeiter*innen in den Wohnungen ihrer Arbeitgeber*innen aufhalten.

Protest von „Einwanderungs“-Polizei kontrolliert, aufgrund von Aussehen, vermutliche Migrant*innen oder Asylbewerber*innen auf den Strassen von Tel Aviv, Israel, 5.7.2009 (Foto: Activestills)

Die Marginalisierung dieser Arbeiter/innen liefert der Regierung noch mehr „Munition“. In vielen Gesellschaften ist immer wieder zu beobachten, dass die „anderen“, die „Fremden“ für diverse Probleme, insbesondere wirtschaftlicher Art, verantwortlich gemacht werden. Auch in Israel schreckte die Regierung nicht davor zurück, als es galt, die öffentliche Aufmerksamkeit von anderen Themen abzulenken. Dies geschah zum Beispiel im Jahr 2004, als die Behörde für Migration im Rahmen einer finanziell sehr gut ausgestatteten Kampagne die Abschiebung von Arbeitsmigranten/-innen aus Israel propagierte und dafür um Zustimmung und Mithilfe in der Öffentlichkeit warb. Die Kampagne verglich die Zahl der Arbeitsmigrant*innen mit der Zahl der Arbeitslosen in Israel (je eine Viertelmillion Menschen) und behauptete, die Arbeitsmigrant*innen seien für die Arbeitslosigkeit verantwortlich, weil sie den israelischen Arbeiter/innen die Arbeitsplätze wegnehmen würden. Die Propaganda in den Medien, einschließlich der elektronischen Medien, stellte Arbeitsmigrant*innen als Leute dar, deren Beschäftigung „illegal und unmoralisch“ sei. Im Rahmen der visuellen Darstellung dieser Kampagne wurden Fotos von Migrant*innen mit einem großen X durchgestrichen. Diese Politik des „Teile und Herrsche“ spielte eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Xenophobie in Israel. Es ist interessant, dass an vielen Orten der Welt Xenophobie, die in der Öffentlichkeit laut wird, von „unten“ kommt, während in Israel (sowohl in Bezug auf Arbeitsmigranten/-innen als auch Asylsuchenden) derartige Äußerungen in erster Linie von „oben“, also von Entscheidungsträger/innen gemacht werden. Erst danach finden diese Botschaften in der allgemeinen Öffentlichkeit breite Verwendung.
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Wirtschaftliche Interessen

Ein weiteres Argument, das in der öffentlichen Debatte auftaucht, wenn es um die Rechte der Arbeitsmigranten/-innen geht, ist die arrogante Behauptung, dass „wir ihnen einen Gefallen tun“. Diesem Diskurs liegt die Wahrnehmung zugrunde, dass Arbeitsmigrant*innen aus Ländern kommen, die weniger gut entwickelt und weniger wirtschaftlich erfolgreich sind als das gute und erfolgreiche Israel, das ihnen nichts schuldet. Eine solche Argumentation basiert auf einer Wirtschaftskonzeption des freien Markts, die darauf abzielt, Arbeiter*innen Bedingungen zu stellen und ihnen die Entscheidung zu überlassen, ob sie diese akzeptieren oder nicht. Natürlich zieht diese Argumentation das Fehlen einer wirklichen Wahlmöglichkeit der Arbeiter/innen nicht in Betracht; stattdessen stützt sie sich auf die (traurige) Tatsache, dass Arbeitsmigranten/-innen es oft vorziehen, unter sehr schlechten Bedingungen zu arbeiten, anstatt gar nicht zu arbeiten, weil sie ihren Lebensunterhalt und häufig auch den ihrer Familien in ihren Herkunftsländern bestreiten müssen.

Wirtschaftliche Interessen leiten nicht nur die Arbeiter/innen, die nach Israel kommen möchten: Wie bereits beschrieben, müssen Arbeitsmigrant*innen schon vor ihrer Ankunft in Israel hohe Vermittlungsgebühren bezahlen; deshalb haben die Unternehmen und Einzelpersonen, die die Vermittlungsgebühren kassieren, auch ein Interesse daran, dass so viele Arbeiter/innen wie möglich nach Israel kommen. Und mehr noch, sie profitieren auch von einer hohen Fluktuation. Angesichts der Quotenpolitik kann die Fluktuation über das gegebene Maß dadurch erhöht werden, dass Arbeitsmigrant*innen ihre Arbeitgeber*innen vorzeitig verlassen. Die Politik der Misshandlung und der damit einhergehenden systematischen Verletzung von Arbeitsrechten bringen Arbeitsmigrant*innen dazu, ihre Arbeitgeber/innen zu verlassen und dadurch ihr Visum zu verlieren. Diese Politik hilft also den Eigentümer*innen der Vermittlungsunternehmen, noch mehr Geld zu verdienen.
In der Vergangenheit verfolgte die israelische Regierung eine Politik des „geschlossenen Himmels“: Neue Visa bzw. Arbeitsgenehmigungen für Arbeitsmigranten/-innen wurden nur dann erteilt, wenn die bereits im Land befindlichen Arbeitsmigrant*innen beschäftigt waren. Diese Vorschrift wurde von der Einwanderungsbehörde aufgehoben, anscheinend, nachdem die bilateralen Abkommen mit der thailändischen Regierung in Bezug auf den Agrarbereich vereinbart waren. Das Ergebnis ist, dass die Arbeiter/innen noch größere Schwierigkeiten haben, neue Arbeitgeber/innen zu finden, während Arbeitgeber/innen noch mehr dadurch verdienen können, dass sie einfach neue Arbeitsmigranten/-innen nach Israel holen, wenn ihnen Arbeitsmigranten/-innen aufgrund der schlechten Bedingungen „weglaufen“.

Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Arbeitsmigranten/-innen in einem bestimmten Sektor (wie niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten und fehlender Schutz der Rechte der Arbeiter/innen) letztendlich auch zu einer Verschlechterung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen für israelische Arbeiter*innen (jüdische und palästinensische) in diesem Sektor führt und dazu, dass sie aus diesem Sektor ausgeschlossen werden. Ein/e Arbeitgeber/in, der/die praktisch nicht verpflichtet ist, den gesetzlichen Regelungen nachzukommen, und deshalb einem/r Arbeitsmigranten/-innen weniger als den gesetzlichen Mindestlohn zahlen kann, will keine Israelis anstellen, da er/sie ihnen das Mindestgehalt zahlen muss, weil sie ihn/sie sonst verklagen.
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Was sollte Israel tun?

Im Allgemeinen wäre es angemessen für Israel, eine ordentliche, klare Einwanderungspolitik zu formulieren. In diesem Zusammenhang sollte auch das Diskriminierungsverbot gegenüber Arbeitsmigranten/-innen festgeschrieben werden. Dieses Verbot ist Teil internationaler Abkommen, zu denen etwa auch das „Übereinkommen über Wanderarbeiter“ der Internationalen Arbeitsorganisation gehört (ILO 97). Die Angleichung der Bedingungen sollte substanziell sein und die schwache Ausgangsposition der Arbeitsmigrant*innen gegenüber anderen Gruppen von Lohnabhängigen auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen.

Arbeitsmigranten/-innen, die nach Israel gekommen sind und hier aus besonderen Gründen lange Zeit mit Genehmigung geblieben sind, sollten ein Daueraufenthaltsrecht erhalten, das ihnen Stabilität gewährt.

All dies würde es ermöglichen, dass Arbeitsmigranten/-innen als Menschen behandelt werden, als Menschen, die einen eigenen Willen haben, eigene Bedürfnisse und Wünsche, und nicht nur als Mittel, um die Bedürfnisse anderer zu realisieren.

Die Rechtsanwältin Reut Michaeli ist seit 2010 Geschäftsführerin der Hotline for Refugees and Migrants („Hotline für Flüchtlinge und Migrant/innen“), die sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Rechte von Migrant*innen und Asylsuchenden in Israel zu schützen und den Menschenhandel zu bekämpfen. Nach ihrem Jurastudium an der Verwaltungshochschule (College of Management – Academic Studies) in Rischon LeZion und der Hebräischen Universität in Jerusalem arbeitete Michaeli seit 2002 in verschiedenen Funktionen im Rahmen des Israel Religious Action Center (Religiöses Aktionszentrum in Israel), das sich mit Öffentlichkeitsarbeit und juristischer Unterstützung der Anliegen der Bewegung des progressiven und Reformjudentums in Israel beschäftigt. In ihrer Arbeit bemüht sich Reut Michaeli besonders um den Schutz von Menschenrechten und ist Expertin für Migrationsfragen.


Anmerkungen
[1] Vgl. Bevölkerungs- und Einwanderungsbehörde: Daten über Ausländer in Israel, 1. Quartal 2016.
[2] Genaue Zahlen liegen zu dieser Frage nicht vor. Über die Anträge entscheidet ein spezieller Ausschuss. In den allermeisten Fällen werden sie abgelehnt, und selbst bei positiven Entscheidungen werden in der Regel lediglich befristete Aufenthaltsgenehmigungen erteilt.
[3] Zur Organisation siehe (Website gelöscht).
[4] Zur Organisation siehe (Website gelöscht).
[5] Zur Organisation The Association for Civil Rights in Israel (ACRI).
[6] Vgl. High Court of Justice (HCJ), 11437/05, 13.4.2011, Urteil von Richterin A. Proccacia.
[7] Kav LaOved, Hotline für Flüchtlinge und Migrant*innen, ACRI, Ärzte für Menschenrechte – Israel
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Zuerst erschienen am 21. September 2116 bei RLS Israel office
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers



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Julius Jamal

Israel-Preisträgern fordern Anklage wegen kriminellem Massaker

Julius Jamal

Das Massaker am vergangenen Montag in Gaza kostete mehr als 60 Menschen das Leben und verletzte über 2000 schwer, die Welt zeigte sich angesicht der massiven Gewalt schockiert. Israels Regierung und die Armee stellen es als Verteidigung hin, doch dagegen regt sich Widerstand, so demonstrierten israelweit Linke und Friedensaktivisten gegen die massive Gewalt. Nun haben auch prominente Israelis in einem Brief die internationale Gemeinschaft aufgefordert klar Stellung zu beziehen gegen die Gewalt.
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Wir dokumentieren den offenen Brief:

„Wir, israelische Bürger, die wünschen, dass unser Land sicher und gerecht ist, sind entsetzt und erschrocken über das massive Töten unbewaffneter palästinensischer Demonstranten in Gaza.

Keiner der Demonstranten stellte eine unmittelbare Gefahr für den Staat Israel oder seine Bürger dar. Die Tötung von 60 Demonstranten und die Tausenden weiterer Verwundeter erinnern an das Massaker von Sharpeville im Jahr 1960 in Südafrika. Die Welt handelte dann.

Gaza Gedenken (Pic: Guy Smallman)

Wir appellieren an aufrichtige Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, zu handeln. Wir fordern, dass diejenigen, die Schießbefehle erteilten, untersucht und vor Gericht gestellt werden. Die derzeitigen Mitglieder der israelischen Regierung sind für das kriminelle Vorgehen verantwortlich, auf unbewaffnete Demonstranten zu schießen. Die Welt muss eingreifen, um das laufende Töten zu stoppen.“

Avraham Burg, ehemaliger Sprecher der Knesset und Vorsitzender der Jewish Agency
Prof. Nurit Peled Elhanan, Ko-Preisträger des Sacharow-Preises 2001
Prof. David Harel, Vizepräsident der Israelischen Akademie der Wissenschaften und Preisträger des Israel-Preises 2004
Danny Karavan, Preisträger des Israel-Preises 1977
Prof. Yehoshua Kolodny, Preisträger des Israel-Preises 2010
Alex Levac, Fotograf und Preisträger des Israel-Preises 2005
Prof. Judd Ne’eman, Direktor und Preisträger des Israel-Preises 2009
Prof. Zeev Sternhell, Historiker und Preisträger des Israel-Preises 2008
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Erstveröffentlichung in „Die Freiheitsliebe“  vor wenigen Tagen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers und des Autors.

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Tsafrir Cohen

Die andauernde Nakba

Tsafrir Cohen

Für die Palästinenser*innen war die Gründung des Staates Israel vor 70 Jahren eine Katastrophe. Während bei Protesten in Gaza mehr als 50 Palästinenser*innen starben, feierte die Ablehnungsfront gegen die palästinensische Selbstbestimmung in Jerusalem die Eröffnung der US-Botschaft.

In dieser Woche gedenken über zehn Millionen Palästinenser*innen der Nakba, der massenhaften Flucht und Vertreibung in der Folge der Staatsgründung Israels 1948. Doch die Nakba endete damals nicht, sondern ist Teil eines fortwährenden Enteignungsprozesses. Die Welt scheint sich damit zu arrangieren, dass es die Zweistaatenlösung höchstens dem Namen nach geben wird.

Den Palästinenser*innen verbleiben nicht einmal jene 22 Prozent des historischen Palästinas, auf dem ihr Staat entstehen sollte, denn sie werden im Westjordanland Schritt für Schritt in dichtbevölkerte Enklaven verdrängt. Wie es dort künftig aussieht, verrät ein Blick in den Gazastreifen: Hier leben zwei Millionen Menschen in freiluftgefängnisähnlichen Verhältnissen auf einem Gebiet der Größe Westberlins – keine Aussicht auf Besserung. In der Folge zerrinnt jedes emanzipatorische Potenzial der palästinensischen Gesellschaft, während Israel seine demokratischen Züge immer weiter verliert.

Die Zementierung solcher Verhältnisse wird anlässlich der Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem gefeiert. Dort versammelte sich gestern die Ablehnungsfront gegen die palästinensische Selbstbestimmung: die Großmacht USA, vertreten durch Ivanka Trump und deren Mann Jared Kushner, die Fundamentalisten des Westens, vertreten durch den evangelikalen Priester Robert Jeffress – und europäische Rechtsaußenregierungen in Ungarn und Österreich, die einen geschlossenen europäischen Boykott der Feier durch demonstrative Anwesenheit ihrer Botschafter verhindern. Dazu kommen jauchzende israelische Nationalist*innen, angeführt von einem am Zenit seiner Macht stehenden Premier Netanjahu.

Alldem sieht das Friedenslager tatenlos zu, und nicht einmal die Dutzenden Toten im Gazastreifen vermögen es, sie aus ihrer Lethargie zu befreien. Es bleiben keine Akteure, die sich gegen die Verdrängungsprozesse stellen und damit beiden Gesellschaften die Möglichkeit eröffnen, ihre emanzipatorischen Potentiale zu entdecken.
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Zuerst am 15. Mai 2018 in der tageszeitung (www.taz.de) erschienen
danach am 16. Mai 2101 bei RLS Israel office
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers

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Weiterführende Links:
Israel zum Siebzigsten: http://www.rosalux.org.il/israel-zum-siebzigsten/
Dossier: 50 Jahre Besatzung: http://www.rosalux.org.il/dossier-50-jahre-besatzung/
Tsafrir Cohen, Lösungsmöglichkeiten aus heutiger Sicht: http://www.rosalux.org.il/losungsmoglichkeiten-aus-heutiger-sicht/


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Arn Strohmeyer

70 Jahre Israel – 70 Jahre Siedlerkolonialismus und Krieg gegen Palästinenser

Arn Strohmeyer

Israel feiert sich selbst anlässlich des 70. Geburtsages des Staates, und die westlichen Staaten stimmen in den Jubelchor ein und schicken hochrangige Regierungsdelegationen zu den Feierlichkeiten der selbst ernannten „einzigen Demokratie im Nahen Osten“, bei denen man die „gemeinsamen Werte“ beschwören wird. Aber eigentlich gibt es keinen Anlass zu feiern, denn dieser Staat verdankt seine Existenz der Vertreibung und Unterdrückung eines anderen Volkes, dessen Land er sich angeeignet hat. Das zionistische siedlerkolonialistische Israel führt seit über 70 Jahren einen grausamen Krieg gegen die Palästinenser, der ihn aber in eine ausweglose Lage gebracht hat, an der das ganze zionistische Unternehmen nun zu scheitern droht.

Die israelische Politik, der die Ideologie des Zionismus zu Grunde liegt, ist eigentlich nur mit dem Begriff des Tragischen zu verstehen, wobei man in diesem Zusammenhang natürlich an die griechische Tragödie denken muss. Sie thematisiert die Verstrickung des Protagonisten, der sich in eine so ausweglose Lage bringt, dass er das Verhängnis durch jedwedes Handeln nicht mehr abwenden kann und schuldig werden muss. Sein Scheitern ist unausweichlich. Die herannahende Katastrophe lässt sich nicht mehr abwenden. Der Keim der Tragödie ist, dass der Protagonist der Hybris – der Arroganz, dem Hochmut und der Selbstverblendung – verfällt. Die Übereinstimmung mit der Situation Israels liegt auf der Hand. Nur eines gibt es in der der israelisch-jüdischen Tragödie nicht: Die griechische Tragödie sollte einen Sinneswandel bei den Beteiligten hervorrufen – eine Reinigung oder Katharsis. Das Durchleben von Jammer und Rührung, die das Drama hervorrief, sollte zu einer seelischen und moralischen Läuterung führen, davon kann in der israelisch-jüdischen Tragödie keine Rede sein. Es gibt keinerlei Empathie.

Der Gedanke, die Situation Israels, seine Geschichte und seine heutige Politik mit einer Tragödie in Verbindung zu bringen, ist keineswegs neu. In der Bildung eines jüdischen Nationalstaates sah schon der jüdische Publizist Isaac Deutscher (1907 – 1967) „eine weitere jüdische Tragödie.“ Der Schriftsteller Erich Fried, ebenfalls ein Jude, hat immer wieder von der „Tragödie“ geschrieben, die Israel im Nahen Osten angerichtet habe. Und der deutsch-jüdische Historiker Fritz Stern (1926 – 2016), der in den USA lebte und lehrte, sagte in dem längeren Gespräch, das er mit Helmut Schmidt führte, auf die Frage des Ex-Kanzlers, was die Israelis tun könnten: „Das ist eine ganz große Tragödie. Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft Israels, wenn ich an seine Politik denke.“

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Die tragische Entwicklung nahm ihren Anfang, als sich der Zionismus dem universalistischen Denken verweigerte, das aus der Aufklärung kam und das intellektuelle Judentum lange Zeit geprägt hatte. Man kann einwenden, dass der Zionismus gar nicht anders konnte, als den universalistischen Weg zu verlassen. Denn wie sonst – ohne Gewalt – hätte er sonst im Land eines anderen Volkes einen Staat gründen können? Aber es gab die universalistische Alternative: Die Zionisten hätten im Einvernehmen mit den dort ansässigen Arabern einen Staat aller seiner Bürger/innen anstreben können, statt sich als Staat einer einzigen Ethnie beziehungsweise Religion bei völliger Negierung, ja Verachtung der einheimischen Bevölkerung zu gründen. Die Zionisten entschieden sich also für die partikularistische, stammesmäßige und zunehmend auch religiös aufgeladene „Lösung“.

Am Anfang der israelisch-jüdischen Tragödie stand also die Spaltung in Partikularisten und Universalisten. Diese Teilung in gegensätzliche Tendenzen war keineswegs neu, sie zieht sich durch die gesamte Geschichte des Judentums. Es ist der Gegensatz „zwischen Nationalismus und Universalismus, zwischen Konservatismus und humanistischen Fortschrittsdenken, zwischen Fanatismus und Toleranz.“ Die jeweiligen Zeitumstände entschieden darüber, welche Richtung gerade die Oberhand hatte. Der deutsch-jüdische Psychoanalytiker Erich Fromm, von dem diese Unterscheidung stammt, sah die universalistische Richtung aber klar im Vorteil: „Das radikale humanistische Denken [kennzeichnet] die Hauptentwicklungsstufen der jüdischen Überlieferung, während die konservativ-nationalistische Richtung das relativ unveränderte Relikt aus älteren Zeiten ist und nie an der progressiven Evolution des jüdischen Denkens und seinem Beitrag zu den universalen menschlichen Werten einen Anteil hatte.“

Es gibt Parallelen zwischen der universalistischen jüdischen Ethik und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, deren Präambel sich auf alle Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft bezieht, wobei die Anerkennung von deren Würde und gleichen unveräußerlichen Rechten die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet. Weiter heißt es dort in Anspielung auf die Verbrechen der Nazis: „Da die Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben, und da die Schaffung einer Welt, in der den Menschen frei von Furcht und Not Rede- und Glaubensfreiheit zuteilwird, als das höchste Bestreben der Menschheit verkündet worden ist, (…) verkündet die Generalversammlung [der UNO] die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. “ Und in Artikel 1 heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“

Die Zionisten entschieden sich aber klar gegen den Universalismus und für die konservativ-nationalistische Richtung, was aber auch Absonderung und Isolation bedeutet. Nicht nur die Spaltung zwischen Partikularisten und Universalisten aber ist uralt, sondern auch die gewollte Trennung und Separation von den Nicht-Juden. Sie zieht sich durch die ganze jüdische Geschichte. Der Begründer des Zionismus. Theodor Herzl, erneuerte sie, indem er sich den Judenstaat als endgültige Separation der Juden von den Nicht-Juden als Antwort auf den Antisemitismus vorstellte, also die radikale Abkehr der Juden von einer als für sie feindselig begriffenen Welt und als Flucht in ein „Land ohne Volk“, wo sich die Juden als eine abgesonderte und geschlossene national-ethnische Gruppe entfalten können sollten. Eine solche partikularistische Konzeption, die zum Wesen des Judentums gehört, musste in der Form institutionalisierter staatlicher Politik eine isolationalistische und isolierte Nation hervorbringen, die zwischen der Angst vor den Anderen und prahlerischer Krafthuberei schwankt. Es waren also im Wesentlichen die ideologischen Ziele des Zionismus samt ihrer Realisierung sowie die nationalistischen Folgerungen aus dem Holocaust und die Gründung des Staates Israel, die die Abkehr vom Universalismus bewirkten. Der französische Historiker Pierre Birnbaum schrieb deshalb: „Eine lange Geschichte kommt wahrscheinlich an ihr Ende: die des Zusammentreffens der Juden und einer streng universalistisch verstandenen Aufklärung.“

Es verwundert deshalb nicht, dass diese Absonderung und Isolation der Zionisten von universalistischen Werten die Betonung einer eigenen Moral zur Folge hatte, die eigene Werte propagierte, auch wenn dies nicht immer so deutlich ausgesprochen wurde und wird, um wenigstens den Schein zu wahren. So vertrat – wie schon erwähnt – der führende Ideologe der zionistischen Arbeiterbewegung Berl Katznelson (1887 – 1944) die Auffassung, dass der Zionismus gegen den Strom agieren und gegen den Willen der Mehrheit beziehungsweise gegen den Gang der Geschichte seine Ziele erreichen müsse. Er unterliege daher anderen Maßstäben als der „formalen Moralität“. Die eigene nationalstaatliche Existenz wird somit vom Handeln nach „eigenen Regeln“, von eigenen moralischen Maßstäben abhängig gemacht. Diese Existenz – in diesem Zusammenhang ist von „maximalistischem Zionismus“ die Rede – lasse sich letztlich nur durch Verdrängung des anderen Kollektivs [der Palästinenser] aus dem Land und auch aus dem Bewusstsein erreichen. Katznelson spricht von „Umsiedlung“, eine harmlose Umschreibung für Vertreibung.
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Gegen den Universalismus

Angesichts einer solchen ideologischen Tradition erstaunt es nicht, wenn eine Ministerin aus dem Kabinett von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ganz unumwunden zugibt, dass der Zionismus nichts mit universalistischer Moral – also Menschenrechten und Völkerrecht – im Sinn habe. Im August 2017 erklärte Israels Justizministerin Ayelet Shaked (wie ober schon angeführt, aber man kann diese Aussage nicht oft genug wiederholen!) auf einer Konferenz in Tel Aviv wörtlich: „Der Zionismus darf sich nicht, und ich sage hier, er wird sich nicht weiterhin dem System der individuellen Rechte unterwerfen, das in einer universellen Weise interpretiert wird, die sie von der Geschichte der Knesset und der Geschichte der Gesetzgebung trennt, die wir alle kennen.“ Die FAZ übersetzte den Satz so: „Der Zionismus wird nicht weiter seinen Kopf beugen vor einem universalen System der individuellen Rechte.“

Der israelische Journalist Gideon Levy bezeichnete Shaked daraufhin in der Tageszeitung Haaretz als „Israels Wahrheitsministerin“. Er schrieb: „Der Zionismus widerspricht den Menschenrechten, und er ist tatsächlich eine ultranationalistische, kolonialistische und vielleicht rassistische Bewegung. (…) Für Shaked und das Recht ist die Debatte über Menschen- und zivile Rechte antizionistisch, ja sogar antisemitisch. (…) Shaked hat uns mitgeteilt: Der Zionismus ist nicht gerecht, er widerspricht der Gerechtigkeit, doch sollen wir an ihm festhalten und ihn der Gerechtigkeit vorziehen, weil er unsere Identität, unsere Geschichte und unsere nationale Mission ist. Kein Pro-Aktivist der BDS-Bewegung würde es schärfer ausdrücken. Doch keine Nation hat das Recht, die universalen Prinzipien verächtlich zurückzuweisen und ihre eigenen Prinzipien zu erfinden, die den Tag Nacht nennen und die Besatzung gerecht und Diskriminierung Gleichheit.“

Der Zionismus hat also eine scharfe Trennungslinie zu den Werten der Aufklärung und des Universalismus gezogen, die das Judentum zum Teil selbst hervorgebracht hat. Man denke nur an den Satz des Alten Testaments: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn.“ Was ja nur heißen kann: Alle Menschen sind ohne Ausnahme als Abbild oder Ebenbild Gottes geschaffen worden – ohne Unterschied von Rasse oder Religion.

Ein wichtiger Beleg für einen radikalen Humanismus ist auch die Talmud-Stelle, in der es heißt: „Aus diesem Grund wurde der Mensch als einzelner geschaffen, um Dich zu lehren, wer immer einen einzigen Menschen von Israel tötet, nach der Schrift so schuldig ist, als wenn er die ganze Welt vernichtet hätte. Und wer einen einzigen Menschen rettet, dem wird das so angerechnet, als ob er die ganze Welt gerettet hätte.“ Auch wenn Sätze wie diese sich ursprünglich nur auf den Stamm Israel bezogen haben, haben sie im Laufe der Zeit doch universalen Charakter angenommen.

Es ließen sich noch viele Beispiele anführen. Es sei aber noch dieses genannt: Ein Nicht-Jude kam zum Rabbi Hillel, der etwa um die Zeitenwende lebte, und bat ihn, die Thora zu erklären: Hillel sagte: „Tue anderen nicht an, was Du nicht möchtest, dass man es Dir antut. Das ist das Wesentliche, und alles Übrige ist Kommentar.“ Ein Satz, der schon den Kategoprischen Imperativ von Kant vorwegnimmt.
Alle diese zutiefst menschlichen Gebote, die mit den universalen Werten Gleichheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe korrespondieren, gelten im Zionismus ganz offensichtlich nicht, sodass sich die Voraussage des israelischen Politologen Zeev Sternhell aus dem Jahr 2014 inzwischen erfüllt hat: „Die Entwicklung in Israel schreit zum Himmel. Israel ist geradezu ein Laboratorium für die allmähliche Erosion der Werte der Aufklärung und besonders der universalen Werte. Deren Missachtung hat an den Rändern schon immer stattgefunden, dringt aber langsam vor und wird eines Tages auch das Zentrum erreichen.“

Dabei enthält die israelische Unabhängigkeitserklärung von 1948 durchaus universalistische Elemente. Da heißt es: „[Der israelische Staat] wird allen seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Vereinten Nationen treu bleiben.“ Diese universalistisch formulierten Sätze stehen ganz in der Tradition westlichen demokratischen Denkens, sind in Israel aber nie politische Wirklichkeit geworden, die Palästinenser – und zum Teil auch die orientalischen Juden – waren nie gleichberechtigte Staatsbürger mit voller Chancengleichheit in der israelischen Gesellschaft.

Liberale universalistische Werte gelten in Israel heute als Gefahr für die Nation. Die israelische Soziologin Eva Illouz hat es so formuliert: „Es stimmt: Ein universaler Staatsbürgerstatus bedroht den jüdischen Charakter des Landes, der die Ausgrenzung und Diskriminierung der Araber impliziert.“ Und: „Das Wort ‚links‘ ist in der israelischen Politik zu einem Schimpfwort verkommen, weil das Eintreten für die universellen Menschenrechte allgemein als Hohn gegenüber der jüdischen Identität und dem jüdischen Partikularismus empfunden wird.“
Der Israelische Philosoph Omri Boehm hat all diese Fakten und Aussagen mit einem sehr harten Urteil zusammengefasst, wobei er besonders die Tragik betont, die der Zionismus geschaffen hat: „Wir müssen uns fragen als Juden, als Menschen, ob wir eher diesen [zionistischen] Werten oder eher den Werten der Menschenrechte, der Gleichheit der Demokratie verbunden sind. Ich glaube, als Menschen und vielleicht sogar als Juden sollten wir das Letztere wählen. Vielleicht ist das eine Lehre, die wir aus der jüdischen Geschichte ziehen sollten. Dieser Widerspruch bedeutet eine Tragödie. Denn er führt uns zu einer Lebensform, die Dingen widerspricht, an die wir wirklich glauben. Es gibt keine Lösung, mit der wir uns in dieser Tragödie einrichten können.“ Die Unfähigkeit der Juden in Israel, mit dieser Tragödie umzugehen, bezeichnet Boehm als „Verbrechen“. Er schließt seine Betrachtung mit dem Satz: „Zionismus ist nicht vereinbar mit humanistischen Werten.“

Eine grausame, siedlerkolonialistische Besatzungspolitik über ein anderes Volk, deren Realität so aussieht: Totale Unterdrückung und Kontrolle dieser Menschen in so gut wie jeder Beziehung, Raub ihres Landes durch Enteignungen ihres Besitzes, Häuserzerstörungen, Zerstörungen ihrer Lebensgrundlagen (Felder, Olivenbäume und Brunnen), Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch feste und bewegliche Checkpoints, Verbannung in Reservate oder Enklaven hinter Mauern und Zäunen, Plünderung ihrer Ressourcen, bürokratische Schikanen, permanente Razzien und Verhaftungen, jahrelange Administrativhaft ohne Prozess (rund 7000 Palästinenser sitzen in israelischen Gefängnissen, darunter viele Kinder), Folter – mit einem Wort: hier herrscht die Willkür von Kolonialherren über ein unterworfenes und wehrloses Volk. Dazu kommen immer wieder Kriege gegen die Palästinenser, die letzten Endes Kriege gegen die Zivilbevölkerung sind, weil die Palästinenser über keine Armee verfügen. All das ist innerhalb der zionistischen Moral möglich, die sich ja deutlich von der westlichen Vorstellung der Menschenrechte distanziert. Nicht nur der israelische Anthropologe Jeff Halper spricht deshalb von „Staatsterrorismus“.
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Vorwurf des Staatsterrorismus

Er schreibt, dass dieser viel furchtbarere Auswirkungen hat als der Terrorismus der Unterworfenen: „Da die Palästinenser keine Armee haben, standen Tod und Zerstörung, die die Bevölkerung infolge dieser [israelischen] militärischen Operationen heimsuchten, in einem derartigen Missverhältnis zu jeder echten Sicherheitsbedrohung [Israels], dass diese Aktionen nur als Staatsterrorismus bezeichnet werden können.“ Die Kriege gegen den Gazastreifen 2008/2009, 2012 und 2014 und die seit 2007 verhängte vollständige Blockade Israels haben die Region in ein Elendsquartier verwandelt.

Eine solche Politik fügt nicht nur den Unterdrückten unendliches Leid zu, sondern sie brutalisiert auch die Täter, in diesem Fall die Angehörigen der Armee und große Teile der israelischen Gesellschaft. Wie weit dieser Prozess schon fortgeschritten ist, soll an drei Beispielen demonstriert werden. Der Israeli Miko Peled schreibt in seinem Buch Der Sohn des Generals (über seinen Vater Matti Peled), dass ihm ein israelischer Marineoffizier folgende Geschichte erzählt habe. Dieser sei mit seiner Einheit und ihren Kriegsschiffen an der Küste des Gazastreifens Patrouille gefahren. Dabei kamen sie immer an Fischerbooten aus dem Streifen vorbei, und von Zeit zu Zeit pickten sie sich ein bestimmtes Boot heraus, befahlen den Fischern ins Wasser zu springen und sprengten das Boot in die Luft. Dann befahlen sie den Fischern mit vorgehaltener Waffe, von eins bis hundert zu zählen, und wenn sie damit fertig waren, ließen sie sie noch einmal von vorn anfangen. Das machten sie dann wieder und wieder, bis die Fischer sich einer nach dem anderen nicht mehr halten konnten und ertranken. Der junge israelische Offizier meinte, dies werde getan (so seine Worte), um „ein Exempel zu statuieren und den Arabern zu zeigen, wer der Chef ist.“ Miko Peled merkt dazu an: „Ich dachte, ich müsste mich erbrechen, als ich das hörte, aber im Lauf der Jahre hörte ich von israelischen Soldaten viele ähnliche Geschichten.“

Ein zweites Beispiel: In Hebron haben israelisch Soldaten im Frühjahr 2016 einen jungen Palästinenser, der offenbar die Soldaten angreifen wollte, angeschossen und wehrlos gemacht. Der Mann lag schwer verwundet und blutend am Boden. Da trat der israelische Soldat Elor Azaria vor und erledigte den Palästinenser kaltblütig mit einem Schuss aus seiner Pistole. In zivilisierten Staaten nennt man so etwas Lynchjustiz. Aber große Teile der israelischen Öffentlichkeit und der Medien feierten den Mörder als Helden. Gideon Levy sprach von schlimmen Rassismus und kommentierte: „Damit hat der israelische Rassismus einen neuen Grad erreicht. Dieser Mord und die Reaktion darauf sind tatsächlich wegweisend. Bis dahin beruhte der israelische Rassismus auf dem arroganten Selbstverständnis des auserwählten Volkes, dem alles erlaubt ist, das das beste ist und alles besser als jeder andere weiß. Man nutzte die Rolle des verfolgten Opfers, dämonisierte die Araber, die uns nur vernichten wollen, man hat sie entmenschlicht und damit ihr Leben entwertet. Anstiften, Lügen und Abstreiten vor einem Hintergrund von überwältigender militärischer Macht. Auf solchen Grundmauern haben wir eine rassistische Gesellschaft geschaffen, wahrscheinlich die am stärksten rassistische Gesellschaft in der gegenwärtigen Welt.“

Levy steigert seine Anklage noch: „Und nun steigt das alles noch um einen Grad nach oben, oder wenn man will nach unten. Denn jetzt können wir dem Ganzen offenen Blutdurst hinzufügen, unverwässert, ungehemmt und unverstellt. Diese Kombination von Rassismus und Blutdurst ist nicht nur abstoßend, sie ist auch gefährlich und unberechenbar. Rassismus gibt es in vielen Gesellschaften, im allgemeinen marginal und verborgen. In Israel ist Rassismus zum Standard geworden, möglicherweise der Gipfel gegenwärtiger politischer Korrektheit. Ihn zu bekämpfen gilt als Hochverrat.“

Drittes Beispiel: Ein junges 16jähriges palästinensisches Mädchen geht im Juni 2017 auf einen Kontrollpunkt zu – so zeigt es ein Video. Ein Messer oder Ähnliches ist bei dem Mädchen nicht zu sehen. Dann dreht das Mädchen plötzlich um und läuft weg. Die Soldaten schießen und verletzen es schwer. Sie umstehen dann das am Boden liegende blutende Mädchen, das sich vor Schmerzen krümmt. Sie wetteifern miteinander, wer das Mädchen mit noch gemeineren Worten verhöhnen kann. Wieder meldet sich der Moralist Gideon Levy zu Wort: „Das sind die Soldaten Israels, das ist ihre Sprache, das sind ihre Werte und ihre Standards. Kein einziger [der Soldaten] dachte daran, sich um ärztliche Hilfe für das Mädchen zu kümmern; keiner dachte daran, den Ausbruch verabscheuungswürdiger Obszönitäten, die um das verblutende Mädchen flogen, zum Schweigen zu bringen.“ Gideon Levy schreibt, dass sich beim Anschauen des Videos vor Wut und Empörung sein Magen umgedreht habe. Er schlussfolgert: „50 Jahre Besatzung haben uns so weit gebracht.“
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Zionismus und Gewalt

In diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Verhältnis Israels beziehungsweise des Zionismus zur Gewalt zu stellen, die automatisch auch die zionistische Sicht von Krieg und Frieden beinhaltet. Der zionistische Staat Israel ist mit dem „Schwert“ geschaffen worden und deshalb ist die Gewalt eine Wesenselement seiner Existenz. Wenn Israel heute ganz Palästina kontrolliert, dann hat es rund 94 Prozent davon mit Gewalt erobert (die Juden hatten bis 1948 nur 5,6 Prozent des Landes käuflich erworben, nach dem Krieg von 1948 hatten sie 72 Prozent des Landes gewaltsam in ihren Besitz gebracht, der Rest kam 1967 dazu.) Diese Existenz kann – so hatte es schon Moshe Dayan 1956 in einer berühmt gewordenen Rede hervorgehoben – nur „mit der Faust und dem Schwert“ auf Dauer gesichert werden, womit die permanente Notwendigkeit des Krieges für Israel angesprochen ist.

Das zionistische Verständnis von Gewalt ergibt sich aus dem Verständnis des Konflikts mit den Arabern beziehungsweise den Palästinensern. Die Ursachen des Konflikts werden nicht in der eigenen Politik (Kriegs-, Siedlungs- , Eroberungs- oder Vertreibungspolitik) gesehen, sondern ausschließlich in der „Feindseligkeit“ und in der Mentalität der „Anderen“, denn den Arabern wird ja eine „primitive“ Mentalität bescheinigt. In ihnen sieht Israel keinen Partner auf Augenhöhe, mit dem die Aushandlung von Kompromissen oder sogar eine Versöhnung möglich wäre. Da die zionistische Ideologie die Araber grundsätzlich als feindselig und nicht friedensfähig (feindliche Gojim) einschätzt, kann Israel den Konflikt auf diese Weise entpolitisieren und enthistorisieren, ihn als gegeben, ewig und unveränderlich interpretieren und damit als unlösbar. Damit wird der Konflikt aber aus seinem politischen und historischen Kontext herausgelöst – er ist das Resultat ultimativer Feindschaft. Mit anderen Worten: Israel schafft sich selbst durch Dämonisierung ein Feindbild, erklärt sich selbst zum Opfer und den „Anderen“ für friedensunfähig und enthebt sich so jeder Notwendigkeit einer Konflikt-Lösung.

Daraus folgt, dass erstens kriegerische Gewalt als völlig legitim angesehen wird, und zweitens der Konflikt zu einem konstanten und konstitutiven Faktor der israelischen Ordnung und somit des israelischen Bewusstseins geworden ist. Krieg wird in diesem Sinne positiv verstanden, weil er die Nationalstaatlichkeit sichert. Die israelische Historikerin Tamar Amar-Dahl schreibt: „Das israelische Kollektiv ist sowohl institutionell (Politik, Militär, Gesellschaft, Wirtschaft, Industrie und Rechtssystem) als auch mental beziehungsweise politisch-kulturell auf Krieg fixiert. In dialektischer Beziehung zur Auffassung, der Krieg sei integraler Bestandteil der nahöstlichen Realität, etablierte sich im Laufe der Jahre auch die Sicherheitsdoktrin der Abschreckung.“

Das heißt: Frieden ist nicht durch Kompromisse möglich, sondern nur dadurch, dass Israel sich militärisch gegenüber seinen arabischen Nachbarn Respekt verschafft, indem es sie davon überzeugt, dass es militärisch eine Supermacht und unbesiegbar ist. Ariel Sharon brachte das auf die Formel: „Sie [die Araber] müssen Angst vor uns haben!“ Die Verträge von Oslo wurden in diesem Sinne nicht als erster Schritt zum Frieden angesehen, sondern „als Fortsetzung der Besatzung mit anderen Mitteln.“

Bei einer solchen Sicht versteht es sich von selbst, dass eine Integration Israels in die Region nicht möglich ist. Israel strebt sie aus Verachtung für die angeblich rückständigen und gewalttätigen Araber auch gar nicht an. Eine solche Herablassung und Arroganz, mit denen die politische Elite Israels den Arabern in der Region begegnet, verstärkt natürlich die Abgrenzung und Isolation Israels, das als „Kreuzfahrerstaat“ wahrgenommen wird. Immer wieder hat Israel aus seiner überlegenen militärischen Position das Recht abgeleitet, sich in die inneren Angelegenheiten seiner Nachbarn einzumischen, ja als Vormacht in der Region eine Neustrukturierung des Nahen Ostens nach seinen Vorstellungen zu verlangen, was die arabischen Antipathien gegen Israel natürlich weiter vergrößert hat.

Israel ist nicht der friedliche und von einer feindlichen Außenwelt bedrohte Staat der Holocaust-Überlebenden, als der er sich selbst gern darstellt und wie ihn viele Deutsche gern sehen möchten. Israel als äußerst aggressiven siedlerkolonialistischen Militärstaat zu sehen, kommt der Wahrheit viel näher. Seine extrem inhumane, ja barbarisch kolonialistische Politik steht in diametralem Gegensatz zu dem Anspruch, eine westliche Demokratie zu sein und die Werte der westlichen politischen Kultur zu vertreten. Genau dies ist ja der Kern der jüdischen Tragödie: „Nicht nur Täter, sondern Opfer sind per se kognitiv und emotional befangen. Sie widmen sich dem ihnen zugefügten Leid als dem absoluten Bösen und sind damit unfähig, über dieses Leiden hinauszugehen, sich für Versöhnung, Vergebung und Solidarität einzusetzen. Eine Politik, die sich aus einer Opferrolle heraus definiert, ist nicht nur engstirnig, sondern auch gefährlich, weil sie Hass und Ressentiments legitimiert, die Logik des ‚sie gegen uns‘ fortschreibt und leztlich nicht dazu in der Lage ist, die Logik der Diskriminierung mittels eines breiten, auf Gleichheit und Brüderlichkeit angelegten Gesellschaftsvertrages zu überwinden.“ So hat der australische Sozialwissenschaftler Roy F. Baumeister das Verhalten der Israelis (ohne sie direkt beim Namen zu nennen) in seinem Buch Vom Bösen. Warum es menschliche Grausamkeit gibt beschrieben.

Die Tragödie Israels ist es, dass es die moralische Orientierung verloren hat, dass es die Werte und Ideale der Aufklärung (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) verraten hat, für die gerade Juden in den vergangenen 200 Jahren so leidenschaftlich gekämpft haben. Juden haben sich in Europa für sich selbst und für andere Gesellschaftsgruppen für die Verwirklichung von Gleichheit eingesetzt, Juden verweigern nun in ihrem eigenen Staat Nicht-Juden [den Palästinensern] eben dies. Eva Illouz folgert daraus: „“Diese Geschichte [Israels und der Juden] ist unvollendet, solange die politischen Institutionen und die Kultur Israels nicht die universalistischen Gebote umfassen, die die Geburt aller modernen Demokratien begleitet haben. Ein jüdischer Staat, der nicht auf universeller Gerechtigkeit aufbaut, wird nicht auf die zentrale Herausforderung geantwortet haben, vor die die Moderne das jüdische Volk stellte, nämlich ihre Existenz und ihre Identität unter Einbeziehung des Universalismus neu zu definieren, statt diese von sich zu weisen.“

Und: „Die ‚Sicherheit des Staates‘ und ‚die Sicherheit der Juden‘ können nicht ewig als Ersatz für eine echte Politik und moralische Positionen herhalten. Dies ist die eine Prämisse. (…) Was Juden in ihren jeweiligen nichtjüdischen Ländern für sich selbst gefordert haben und fordern, muss auch den arabischen und entrechteten palästinensischen Bürgern zugestanden werden – ohne Wenn und Aber.“
Aber nichts deutet darauf hin, dass Israel diesen Weg gehen wird. Ganz im Gegenteil, die extrem nationalistischen und religiösen Kräfte und Tendenzen werden immer stärker und drohen den Staat ins Verderben zu stürzen. Jede Kritik an diesem Kurs wird als Antisemitismus abgeschmettert. Nicht Israels barbarische Politik steht also am Pranger, sondern der Kritiker, der warnt und Humanität einfordert. Der denunziatorische Antisemitismus-Vorwurf ist die letzte ideologische Schutzmauer, die dieser Staat neben der realen Mauer um sich baut, um einen Zustand zu retten, der auf Dauer nicht zu retten ist.
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Das Problem der Vergangenheit

Zu einem Weg der Umkehr, der zur Zeit wegen der herrschenden Machtverhältnisse und der politischen Verblendung der Bevölkerung undenkbar ist, würde zuerst die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, das heißt der eigenen Schuld gehören. Moshe Zuckermann registriert eine zweifache unbewältigte Schuld der Israelis: Zum einen die Schuld einer auf dem Rücken der Palästinenser ausgetragenen Staatsgründung (und man muss hinzufügen: die Schuld, die aus deren Unterdrückung und Vertreibung bis heute entsteht). Zum anderen das Gefühl einer eher vor- oder gar unbewussten Schuld, die mit der kulturellen beziehungsweise psychologischen Negation (man kann auch sagen Verachtung) des Diaspora-Judentums im Allgemeinen und der Shoa-Überlebende im Besonderen zusammenhängt (siehe Kapitel II, 2).

Israel muss – so Zuckermann – seinen Hass vor allem auf die Palästinenser richten, wenn es mit sich selbst im Reinen und das Opfer bleiben will: „Wenn das Selbstbild des Zionismus intakt bleiben soll, darf es sich nicht durch historische Täterschaft besudeln haben.“ Nur durch Verdrängung und manipulative Schuldabwehr kann Israel sein Selbstbild retten. So gesehen muss der Zionismus die Palästinenser als das konkret Böse („Terroristen“ oder „neue Nazis“) dämonisieren, weil ihre Entdämonisierung zwangsläufig auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit – und das heißt mit der gegen sie aufgeladenen Schuld – bedeuten.

Ganz ähnlich argumentiert Ilan Pappe. Er konstatiert eine tiefsitzende Angst der Israelis, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, besonders mit den Ereignissen von 1948, also der ethnischen Säuberung Palästinas. Denn eine solche Auseinandersetzung würde beunruhigende Fragen nach der moralischen Legitimität des ganzen zionistischen Projekts aufwerfen. Die Israelis brauchten deshalb einen starken Verleumdungsmechanismus, der ihnen einerseits helfen soll, Friedensverhandlungen mit den Palästinensern abzuwehren und andererseits jede eingehende Debatte über den Charakter und die moralischen Grundlagen des Zionismus zu vereiteln.

Eine Anerkennung der Palästinenser als Opfer israelischer Taten – also das Stellen der Frage nach dem historischen Unrecht, das Israel 1948 und danach begangen hat – würde den Gründungsmythen des israelischen Staates den Boden entziehen. Außerdem würde die Anerkennung der Palästinenser als Opfer den für die israelischen Juden selbst beanspruchten Opferstatus beschädigen, was Israel unter keinen Umständen zulassen will. Denn eine solche Anerkennung der Palästinenser als Opfer würde „moralische und existenzielle Auswirkungen auf die Psyche israelischer Juden zeitigen: Sie müssten sich eingestehen, dass sie zum Spiegelbild ihres schlimmsten Alptraums geworden sind.“

Zu den tragischen Aspekten des Zionismus und der israelischen Politik gehört auch diese permanente Verdrängung der eigenen Vergangenheit, die eine Verweigerung bedeutet, die Realität wahrzunehmen – auch die gegenwärtige. So kommt dann eine völlig verzerrte Sicht auf die Geschichte des eigenen Staates zustande: dass es nie einen Landraub, nie einen Expansionsdrang auf fremdes Territorium, nie eine Nakba von 1948, nie einen Eroberungskrieg von 1967 gegeben hat und schließlich heute auch gar keine Besatzung existiert. Es wird gern argumentiert, das Land gehöre seit jeher den Juden und sein eigenes Land könne man schließlich nicht erobern und besetzen. Das Ergebnis einer solchen Realitätsverweigerung ist politische Stagnation und Lähmung, die für die Zukunft des zionistischen Projekts beziehungsweise des Staates Israel äußerst gefährlich sind.

Israel hat sich auf diese Weise – wie oben schon angeführt – in eine politische Sackgasse manövriert, aus der es kein Entkommen gibt. Da die Zwei-Staaten-Lösung durch Israels Unnachgiebigkeit, das Land zu teilen, und seine fortgesetzte Siedlungspolitik unmöglich geworden ist, bleibt nur die Ein-Staaten-Lösung, bei der die Palästinenser aber den größeren Bevölkerungsanteil stellen würden. Das aber kann Israel nicht zulassen, was dann aber zu der Bildung eines – vermutlich diktatorischen – Apartheidstaates führen würde, der kaum die Anerkennung der Staatengemeinschaft finden würde und wohl keine großen Überlebenschancen hätte. Außerdem wäre er kein jüdischer Staat mehr. Israels Zukunft sieht also auf Grund einer völlig verfehlten Politik äußerst düster aus. Um dieser Lage zu entkommen, stellen israelische Politiker auch immer wieder Überlegungen an, die Palästinenser zu „transferieren“, das heißt, sie endgültig aus dem Land zu vertreiben.

Es gibt nicht wenige israelische Intellektuelle, die das zionistische Projekt bereits als gescheitert ansehen. Einer von ihnen ist Jeff Halper, er zieht folgende Bilanz: „Der politische Zionismus ist an sein Ende gekommen. Er mag über die kühnsten Träume der zionistischen ‚Pioniere‘ hinaus erfolgreich gewesen sein, schließlich hat Israel Millionen von Juden ‚eingesammelt‘, ist ein prosperierender Staat, eine eindrucksvolle Militärmacht und – trotz seiner düsteren Menschenrechtsbilanz – ein respektiertes Mitglied der internationalen Gemeinschaft geworden. Aber es ist ihm nicht gelungen, mit dem palästinensischen Volk Verständigung, Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung zu erreichen. Das mag für die meisten Israelis nicht das wichtigste Anliegen sein, aber es bedeutet endlosen Konflikt und, selbst wenn wir jede Runde ‚gewinnen‘, wird Israel endgültig zu einem Staat, der, wie der russisch-jüdische Philosoph Achad Ha’am (1856 – 1927) befürchtet hat, nichts ‚Jüdisches‘ an sich hat, ein Staat, der auf Unterdrückung beruht, auf Gewalt und Nisbul. Der politische Zionismus musste moralisch und systematisch scheitern, da er sich nicht mit dem anderen im Land lebenden Volk auszusöhnen verstand. Er ist nicht in der Lage, einen Weg aus diesem Konflikt zu weisen.“

Moshe Zuckermann fragt: „Wie lässt sich erklären, dass Israels offizielle Politik der letzten Jahrzehnte strukturell einen Weg beschreitet, der nicht anders enden kann als mit dem historischen Ende des zionistischen Staates?“ Und: „Wie lässt sich erklären, dass die zionistische Bevölkerung Israels es nicht schafft (letztlich wohl auch nicht schaffen will), den historischen Weg zu beschreiten, der den längerfristigen Fortbestand des von ihr getragenen historischen Projekts einzig zu garantieren vermöchte? (…) Wollte Israel jemals den Frieden? Wollte es wirklich längerfristig als zionistischer Judenstaat existieren?“ In diesen Fragen kommt die ganze Tragödie Israels zum Ausdruck.
Einer, für den die Tragödie Israels schon Realität geworden war, war der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk. Als Vermächtnis hinterließ er kurz vor seinem Tod die Worte: „Ich werde bald sterben, und ich bin nicht traurig. (…) Ich verabschiede mich gelassen von diesem Staat, den ich kannte in seinen schönsten Jahren, die zur Hölle gingen. (…) Wir werden zu Grunde gehen mit wenig Würde und gebrochenen Flügeln.“

(Dieser Text stammt aus dem Buch von Arn Strohmeyer: Die israelische jüdische Tragödie. Von Auschwitz zum Besatzungs- und Apartheidstaat. Das Ende der Verklärung, Gabriele Schäfer Verlag Herne, 2017).
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Wir danken der Onlinezeitung Der Semit für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung

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Buchempfehlung

Arn Strohmeyer, Die israelisch-jüdische Tragödie – Von Auschwitz zum Besatzungs- und Apartheidstaat Israel. Das Ende der Verklärung
Seit 50 Jahren hält Israel völkerrechtswidrig palästinensische Gebiete besetzt und ein Ende – und damit eine Friedenslösung – ist nicht in Sicht. Um diesen Zustand zu zementieren, hat Israel apartheidähnliche Zustände geschaffen: In Israel selbst unterliegen die Palästinenser großer Diskriminierung, im Westjordanland und im Gazastreifen werden sie hinter Mauern und Zäunen – sozusagen in Reservaten oder Bantustans – weggesperrt. Rund 4,5 Millionen Menschen müssen dort inzwischen ohne politische und bürgerliche Rechte leben, die Menschenrechtslage ist verheerend. Die israelische Politik hat sich so aber selbst ausmanövriert: Die Zwei-Staaten-Lösung ist wegen des Siedlungsbaus auf palästinensischem Land nicht mehr möglich, eine Ein-Staaten-Lösung würden die Palästinenser mit ihrer Mehrheit dominieren. Eine ausweglose Situation, die nur noch mit dem Begriff des Tragischen zu verstehen ist: Der handelnde Protagonist (Israel) gefährdet durch seine kompromisslose Politik des Hochmuts und der Hybris die eigene staatliche Existenz. Als Zukunftsmodell bietet sich nur noch die Apartheid-„Lösung“ an, die auf der weiteren Unterdrückung eines ganzen Volkes beruht und deshalb keine Überlebenschance hat. Das Scheitern und damit eine Ende des Zionismus scheint so absehbar.
ISBN 9783944487571, Englisch-Broschur, 13×20 cm, 280 Seiten, Bestellung

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(AmericanRebel von 22.12.2017)
Rolf Verleger

Besetztes Land

Vor 100 Jahren versprach Großbritannien den Juden das Land der Palästinenser

(AmericanRebel von 15.05.2017)

Julius Jamal

69 Jahre Nakba – Zeit, das Schweigen zu brechen

Die Staatsgründung Israels vor 69 Jahren ging mit der Nakba einher!
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Julius Jamal

Heute findet weltweit der Nakba-Gedenktag statt. In Deutschland wie in ganz Europa ist die Nakba allerdings nahezu unbekannt, dabei ist die Vertreibung von 700.000 Palästinensern und die Ermordung von mindestens 13.000 eines der entscheidendsten Hindernisse für Frieden im Nahen Osten. Das Rückkehrrecht der Vertriebenen steht bei allen Verhandlungen auf der Tagesordnung, auch wenn die israelische Rechtsregierung sich immernoch weigert, dieses Verbrechen anzuerkennen.

700.000 PalästinenserInnen, rund 80 Prozent der arabischen Bevölkerung im Gebiet des heutigen Israels, wurden 1948 vertrieben. By mr hanini, licensed under CC BY-SA 3.0 (edited).

Im Zuge der Nakba wurde das komplette Leben der Palästinenser im Gebiet des heutigen Israels zerstört, so wurden nicht nur 700.000 Menschen vertrieben, sondern auch ein Großteil ihrer Ortschaften zerstört. Historiker gehen davon aus, dass die von zionistischen Milizen durchgeführten Aktionen die Zerstörung von 531 Dörfern und Städten zur Folge hatten.

In den jüdisch-palästinensischen Orten wurden die Häuser der vertriebenen Palästinenser enteignet und an Neuankommende übergeben. Für diese Enteignung wurde sich bis heute weder entschuldigt, geschweige denn eine Entschädigung gezahlt, da Israel dieses Verbrechen immer noch leugnet.

Wer sich allerdings für Frieden im Nahen Osten einsetzt, der muss die Nakba anerkennen und die damit einhergehende Situation der Palästinenserinnen und Palästinenser im Exil als Problem verstehen, das nur im Zusammenhang mit der Staatsgründung Israels gesehen werden kann.

Die große Katastrophe, so die Bedeutung des Worts Nakba, kann nicht verdrängt oder als Mythos dargestellt werden, doch der Schmerz der durch sie entstanden ist, kann gelindert werden, wenn den Menschen endlich die Rückkehr in ihre Heimat gestattet und ihr Leid anerkannt wird.

Deutschland trägt eine besondere Verantwortung für die Situation im Nahen Osten, dieser wird es nicht gerecht, wenn es die Nakba weiterhin ignoriert und Ausstellungen, die das Theman aufarbeiten wollen, verboten werden. Wenn die deutsche Regierung ihrer Verantwortung gerecht werden will, muss sie sich dafür einsetzen, dass die Nakba nicht in Vergessenheit gerät und die Vertriebenen ihre Heimat wiedersehen dürfen.

Palästinensische Araber werden 1948 von israelischen Soldaten mit Waffengewalt aus ihren Häusern in Haifa im heutigen Israel vertrieben.
By SlimVirgin, published under public domain.

In Haifa wird die Nakba 1948 als „Haifa Liberation“ interpretiert und ihr gedacht. Geschichtsrevisionismus in besonders perfider Art und Weise.
Foto von Jakob Reimann, licensed under CC BY-SA 2.0.

Über den Autor: Ich habe 2009 die Freiheitsliebe gegründet aus dem Wunsch, einen Ort zu schaffen, wo es keine Grenzen gibt zwischen Menschen. Einen Ort an dem man sich mitteilen kann, unabhängig von Religion, Herkunft, sexuelle Orientierung und Geschlecht. Freiheit bedeutet immer die Freiheit von Ausbeutung. Als Autor dieser Webseite streite ich für eine Gesellschaft, in der nicht mehr die Mehrheit der Menschen das Umsetzen muss, was nur dem Wohlstand einiger Weniger dient.
Ihr findet mich auf: Facebook.

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Fiete Jensen

Wem gehört das Land?

Illegaler Siedlungsbau im Westjordanland nimmt kein Ende

Fiete Jensen

Wem gehört das Land? Sicher nicht den israelischen Besatzern und ethnischen Säuberern, sondern den vertriebenen und besetzten Ureinwohnern Palästinas, den Palästinensern.

Das ist mir seit langem bekannt und in Anbetracht, dass wir heute viel über die Kriege in und um Syrien und über die Neubesetzung der führenden Clownrolle in den USA diskutieren, möchte ich daran erinnern, dass sich in Palästina nichts geändert hat. Der rassistische, profaschistische Apartheidsstaat Israel waltet und schaltet dort, fast unbehelligt von der Weltöffentlichkeit wie er will.

Als Konsequenz der Brände im Herbst vergangenen Jahres, riefen der israelische Politiker und Vorsitzender der Partei HaBajit haJehudi („jüdisches Heim“) Naftali Bennett, sowie sein rechtsradikaler Kollege, der Außenminister Avigdor Lieberman, dazu auf, den Siedlungsbau auf besetztem Land zu expandieren und prompt wurden auch 500 neue Siedlungseinheiten genehmigt! Mit dem illegalen Siedlungsbau verbunden sind tägliche Angriffe und repressive Maßnahmen, Verhaftungen und die anhaltende Zerstörung von Häusern sowie Felder und Olivenhaine von Palästinensern im Westjordanland. Kürzlich setzten israelische Soldaten am Abend einen Olivenhain unweit der illegalen Siedlung Kiryat Arba (Hebron) in Brand. Der von Anwohnern gerufenen Feuerwehr wurde von israelischen Soldaten der Zugang zu dem Feuer verweigert. Unweit des Ortes Jaaba (Hebron) zerstörten israelische Soldaten mehrere Wohnhäuser, Wirtschaftsgebäude sowie einen Brunnen. Ein Sprecher der zuständigen israelischen Behörde (COGAT) erklärte, die Gebäude seien »ohne Genehmigung« errichtet worden.

Auf der Suche nach neuen Fakten stolperte ich über den nachfolgenden Text von Jürgen Todenhöfer, den ich hier nicht vollständig wiedergeben möchte, ohne mich auch bei Jürgen Todenhöfer für seine hervorragende Arbeit zu bedanken.

„Liebe Freunde, Netanjahu bereitet die totale Annexion des Westjordanlandes vor. Schon jetzt ist es mit völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen übersät. Wissenschaftsminister Akunin triumphierte: „Das ganze Land gehört uns. Dieses Recht ist ewig und kann nicht angefochten werden“ „Nein, Herr Wissenschaftsminister. Das Westjordanland gehört nicht Ihnen. Nicht ein Quadratmeter. Es gehört den Palästinensern!“.

Netanjahu will nun sogar ‚illegale‘ israelische Siedlungen im Westjordanland nachträglich legalisieren. Jedem willkürlichen Landraub wäre damit Tür und Tor geöffnet. Deutlicher kann Netanjahu nicht zeigen, dass er das ganze Westjordanland will. Und auf die Zwei-Staaten-Lösung pfeift.

Jeder andere Staat, der derart offen gegen Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats verstößt, würde mit Sanktionen überzogen. Für Israel aber gibt es nur milde Ermahnungen. So wie nach dem Gaza-Krieg 2014, als die USA Israel zur Zurückhaltung bei ihren Bombardements aufforderten und anschließend deren Waffenlager wieder mit Bomben auffüllten. Oder als Deutschland von der israelischen Regierung Angemessenheit ihrer Reaktionen forderte und ihr – trotz maßloser Angriffe auf Zivilisten – anschließend mehrere Kriegsschiffe zu Schleuderpreisen lieferte.

Die Welt ist feige. Und deshalb läuft alles auf eine Einstaatenlösung zu. Auf einen Apartheid-Staat. Falls die Palästinenser nicht ganz davongejagt werden. In die Wüste, auf den unfruchtbaren Sinai, ins sterbende Gaza oder in den von Flüchtlingen überschwemmten Libanon.

Dagegen müssen wir unsere Stimme erheben. Ohne jedes anti-jüdische Ressentiment. Ich habe mich immer für das Existenzrecht Israels und gegen Antisemitismus eingesetzt. Aber für israelisches Unrecht werde ich mich nie einsetzen. Eine Zwei-Staaten-Lösung ist Israels letzte Chance zu einem friedlichen Miteinander mit den Palästinensern. Jetzt steuert alles auf eine Konfrontation zu. Die katastrophal enden könnte. Man kann Menschen nicht unbegrenzt demütigen.

Illegaler Siedlungsbau in der Nähe von Jerusalem,
Bild: Reuters

Führende israelische Politiker und Juristen sehen Netanjahus Politik ähnlich kritisch wie ich: Israels Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit erklärte, das neue Gesetz verstoße gegen israelisches und internationales Recht und liefere Munition für Klagen gegen Israelis vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.

Viele reden in diesen Tagen von der Notwendigkeit eines starken Europas. Der Versuch Netanjahus, die Zwei-Staaten-Lösung ein für allemal abzuschießen, wäre für Europa eine gute Gelegenheit, Haltung zu zeigen. Und Netanjahu klar zu machen, dass Europa mit ihm nur zusammen arbeiten wird, wenn er Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats respektiert und endlich einem konkreten Zeitplan zur Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung zustimmt.“

 

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