
Heinz Ahlreip – 15. Januar 2025

Es gibt in der Wirklichkeit nichts, was der Logik streng entspricht. Widerspricht dieser Satz dem wissenschaftlichen Sozialismus? Wir sind nicht auf einen Automatismus vergattert, sondern auf die Spaltung des Einheitlichen und die Erkenntnis seiner widersprechenden Teile. Die Direktive zur Zeit des klassischen Konkurrenzkapitalismus lautete: Exklusiver Ausbruch des Sozialismus in den industriell fortgeschrittensten Ländern; das Gegenteil wird in der Phase des Imperialismus von Lenin theoretisch begründet und vom Stalin-Kollektiv ausgeführt. Die Gegensätze schlagen ineinander um. Das uns so naheliegende Westeuropa geht in weltrevolutionärer Hinsicht leer aus; dass im Kommunistischen Manifest unerwähnt gebliebene Russland macht das Rennen. Die Weltwirtschaftskrise zeigt 1929 an, wie armselig fortschrittlich der kapitalistische Westen ist. Er ist heute ein totgeweihtes Regime, das sich so in der internationalen Politik verheddert hat, dass es nur in einem Weltkrieg um sein Überleben kämpfen kann. Die Weltentwicklung hat einen Wendepunkt erreicht, der Tod des Imperialismus kann heute nur noch ein endgültiger sein.
Das ist die dialektische Grundoperation: Einheit und höherentwickelnder Kampf der Gegensätze als Entwicklung. Die alles durchziehende Widersprüchlichkeit bleibt nicht verborgen, gibt kein absolutes Wissen frei, wie Hegel angab, sondern relatives. Denken ist bindend, schließlich ist nach Engels die materialistische Dialektik unser bestes Arbeitsmittel und unsere schärfste Waffe. Die Dialektik ist eine anti-evolutionistische Entwicklungslehre in ihrer tiefsten Gestalt. Sie gibt uns den Ablauf der sich ewig entwickelnden Materie wieder. Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften sind in unserer geschichtlich vorübergehenden Klassenkampfperiode in Entgegensetzungen kreativ – in der Mathematik zum Beispiel Plus und Minus, in der Gesellschaftswissenschaft Klassenkampf. Den Widersprüchen diesen aufzuzeigen als Quell der Selbstbewegung der Materie ist die Aufgabe der subjektiven Dialektik. Die objektiv vorliegende Dialektik wird subjektiv-bewusst verdoppelt. Ohne sich verdoppelnde Widerspiegelung, ohne sich bewegende weltimmanente Bewegung, kann es keine Erkenntnis geben. Revolutionäre vertreten, dass der Kampf der Gegensätze absolut ist, ihre Identität relativ. Das liegt revolutionskonform auf der Hand; es liegt in der objektiven Kampfkonstellation zur völligen Vernichtung der Bourgeoisie begründet: Ohne Vernichtungskrieg tritt eine reaktionäre Klasse nicht ab. Der objektiven Dialektik ist im Relativen Absolutes vorhanden, subjektive Nichtdialektiker sehen in Relativem nur Relatives. Die menschliche Erkenntnis, die Natur- und Gesellschaftswiderspiegelung, beschreibt aber nach Lenin nicht eine gerade Linie, sondern eine Kurve, die sich einer Reihe von Kreisen, einer Spirale unendlich nähert.1 Das will nicht eingesehen werden. Dass das bisher Wahre falsch wird, wie man das immer zuerst Gehörte für zunächst richtig hält als das diesem später Folgende. Das war bis vor Kurzem noch der Stand der Dinge. Zu fragen ist, ob nicht eine künstliche Intelligenz statt einer bloß menschlichen alles stringent einformt, so dass nichts mehr mit seinem Gegenteil schwanger gehen wird – der Mann nicht mit Weiblichem, die Frau nicht mit Männlichem. Der Marxismus-Leninismus darf nicht zu einem Ruhekissen verkommen mit bereits endgültig ausgesuchten und verteilten Kampfpfeilen. Entspräche alles einer einstimmig-starren Logik, so würde das eine Umdeutung des dialektischen Prozesses bedeuten. Der von bürgerlichen Ökonomen falsch wahrgenommene Warenaustausch zertritt Verhältnisse von Menschen. Das ist es, worum es geht.
Thomas Müntzer verstand sich als Theologe mit dem Hammer, Friedrich Nietzsche sah sich als Philosoph mit dem Hammer. Marx und Engels haben als Gesellschaftswissenschaftler in einer in Frankfurt am Main 1845 verfassten Frühschrift Die heilige Familie der Arbeiterklasse alles Wichtige eingehämmert:
„Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.“¹
Hier wackelt nichts mehr, hier hat nichts mehr Luft, hier ist alles durchdrungen, eingereiht, ins Korsett gepackt und eingefasst. Drei Jahre später klingt das schon anders:
„An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“²
Da ist mehr als eine Nuance. Der Marxismus-Leninismus war und ist nie ein in sich geschlossener Block mit ein für alle Mal feststehenden Resultaten; er ist immer auch suchend, forschend. Neue Wege, neue Entwicklungen brauchen korrektive Begleitung. Ein Auswendiglernen führt zu keinem inwendigen Wissen. Es gibt also in der Wirklichkeit nichts, was der Logik streng entspricht.
Auch die Massivität des materialistischen Humanismus in der Deutschen Ideologie wird besonders in den Spätbriefen von Engels abgefedert. Beide hatten zu sehr und zu einseitig die ökonomische Basis akzentuiert und den Einfluss des Überbaus auf die Basis unterschätzt. Wie das Verhältnis zwischen Basis und Überbau wirken kann, ist viel lebendiger und einflussreicher, als zunächst resümiert. Die MLPD fällt auf der anderen Seite ins Extrem, dass der Überbau zeitweise Oberhand gewinnen könne.
Der Marxismus-Leninismus hat immer gegen den Idealismus, damit gegen die Religion und damit auch gegen den Irrationalismus gekämpft – permanent. Zwei traditionsverhaftete gigantische Denksysteme brachen ein: Die idealistischen Gedankengebäude von Platon und von Hegel, und am Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts tauchte der Nihilismus Nietzsches auf – eine neue Herausforderung. Überhaupt bilden Lenin und Nietzsche das Schibboleth zwischen Humanismus und Terrorismus. Der antike Plato und der christliche Jesus hatten eine gemeinsame theologische Wurzel, so auch der Hegelianismus, der die Weltgeschichte als Gotteswerk verfremdete. Hegel begräbt seine Philosophie unter deren System. Engels korrigiert:
„Bei allen Philosophen ist gerade das ‚System‘ das Vergängliche, und zwar gerade deshalb, weil es aus einem unvergänglichen Bedürfnis des Menschengeistes hervorgeht: dem Bedürfnis der Überwindung aller Widersprüche. Sind aber alle Widersprüche ein für alle Mal beseitigt, so sind wir bei der sogenannten absoluten Wahrheit angelangt, die Weltgeschichte ist zu Ende, und doch soll sie fortgehn, obwohl ihr nichts mehr zu tun übrigbleibt – also ein neuer, unlösbarer Widerspruch.“³
Der bisher gegen den Marxismus-Leninismus kämpfende bürgerliche Idealismus weicht heute zusehends faschistischer Ideologie. Dieser Wechsel entspricht dem vom bürgerlich-demokratischen Republikanismus zum faschistischen Herrenmenschentum. Um 1900 ereignen sich gravierende Änderungen im klassischen Kapitalismus:
„Der Imperialismus ist ein besonderes historisches Stadium des Kapitalismus. Diese Besonderheit ist eine dreifache: Der Imperialismus ist: 1. monopolistischer Kapitalismus; 2. parasitärer oder faulender Kapitalismus; 3. sterbender Kapitalismus. Die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol ist der ökonomische Grundzug, das Wesen des Imperialismus … 4. die (ökonomische) Aufteilung der Welt durch internationale Kartelle hat begonnen. … 5. die territoriale Aufteilung der Welt (Kolonien) ist abgeschlossen.“⁴
Ab 1900 kommt der demokratiefeindliche Irrationalismus des Imperialismus bei gleichzeitiger zunehmender Vergesellschaftung der Produktion hoch – ein Irrationalismus, den Nietzsche vorbereitet hat. Er stirbt 1900. Bis dahin hatte er alles Gestrige vorbereitet, und der Einfluss des Demokraten Rousseaus auf das Geistesleben geht in logischer Konsequenz zurück. Je älter Nietzsches Philosophie wird, desto mehr übt er sich in Aphorismen – das Gegenteil zum Systemdenken Hegels. Ab 1900 wächst folgerichtig der Gegensatz zwischen Rationalismus und Irrationalismus, zwischen Materialismus und Nihilismus. Faschistische Hetze gegen gesellschaftlichen Fortschritt bricht sich schon früher Bahn oder trägt die permanente Menschenrechtsverletzung an dem größten Genie der Weltgeschichte, Karl Marx, durch die bereits faschistisch angehauchte, aber noch nicht massenmäßig auftretende preußische Obrigkeit. Das muss uns haften bleiben. Der Kapitalismus hat durchgehend bewiesen, dass er antigenialisch angelegt ist. In der im Herbst 1843 verfassten Frühschrift Zur Judenfrage hat Marx notiert, dass der Kapitalismus borniert ist und sich in wenigen Zügen erschöpft. Ab 1900 wird das immer massiver und militanter. Mit dem Ausbruch der russischen Revolution von 1905 endet eine einzig bleibende, relativ friedliche Periode nach der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 in Europa. Die politische Spitze der SPD zielt und schwört – entgegen ihrer Friedenszusage von Basel 1912 – am 4. August 1914 mit der Konterrevolution auf bandenmäßige Verschwörung gegen den Weltfrieden. Die kriminellen Mitläufer der Nazis handelten gerade aus dieser Tradition heraus gutgläubig.
In der Dialektik zwischen Revolution und Konterrevolution muss man zunächst einmal nüchtern bleiben – im Manifest wird darauf verwiesen. Nietzsche beschwört indessen, dass es zum Krieg kommen wird, wie es noch keinen auf Erden gegeben hat. Die Imperialisten visieren heute einen inkommensurablen „Dritten Weltkrieg“ an. Das ist es, was sie heute jungen Menschen anbieten können – das zuallererst. In Vechta skandierten am 15. Juni 2025 etwa 80 junge Menschen auf einer Protestkundgebung gegen den ersten imperialistischen Veteranentag mit der Parole: „Gegen die Wehrpflicht und für den Kommunismus – komm und wehr dich, es geht um dein Leben.“ Es greift hier noch nicht, dass man nur durch die allgemeine Wehrpflicht hindurch zur allgemeinen Volksbewaffnung, zum Sozialismus, dann zum Kommunismus gelangen kann. Es zeigte sich in Vechta, wie wenig das Bewusstsein vorhanden ist, dass wir in einer Lohnsklaverei leben, sodass der Weg zum Sozialismus kein pazifistischer Spaziergang sein kann.
Marxisten-Leninisten legen das Wechselverhältnis von Ökonomie als ausschlaggebend zuerst und dann Politik zugrunde. Lenin gab uns im Linken Radikalismus eine nüchterne Bestimmung: „Jedermann weiß, dass die Massen sich in Klassen teilen; daß man Massen und Klassen nur dann einander gegenüberstellen kann, wenn man die überwiegende Mehrheit schlechthin, nicht gegliedert nach der Stellung in der sozialen Ordnung der Produktion, den Kategorien gegenüberstellt, die in der sozialen Ordnung der Produktion eine besondere Stellung einnehmen; dass die Klassen gewöhnlich und in den meisten Fällen, wenigstens in den modernen zivilisierten Ländern, von politischen Parteien geführt werden; daß die politischen Parteien in der Regel von mehr oder minder stabilen Gruppen der autoritativsten, einflussreichsten, erfahrensten, auf die verantwortungsvollsten Posten gestellten Personen geleitet werden, die man Führer nennt.“⁵
Es ist die Aufgabe der Marxisten-Leninisten, dieses politische Verständnis über Massen und über Klassen durchzubringen, durchzustehen, durchzuhalten. Darin liegt die Zukunft der Menschheit. Nietzsche bezeichnete es als sein Los, sich gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden zu wissen. Marx starb 1883, im gleichen Jahr erblickte Nietzsches Zarathustra das Licht der Welt. Der Lehrer sprach von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Das sei das ungeheuerste Gesetz, das der Menschheit je verkündet wurde. Ist es Zufall, dass Nietzsches Werk Der Wille zur Macht 1901 durch seine Schwester Elisabeth erscheint? Es platzt die theoretische Bombe zum Imperialismus-Auftakt. Wenige Herrenmenschen sind vorgesehen – und viele, viele Herdenmenschen. Der deutsche Irrationalismus schneidert sich sein grauenhaftes Idealkostüm zurecht.
Zwischen einem Brief von Engels an Bebel aus dem Jahr 1875 und der Veröffentlichung von Also sprach Zarathustra liegen acht Jahre. Engels schrieb an Bebel, dass die Pariser Kommune schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr gewesen war. 1901 wird der Wille zur Macht imperialistisch festgeschrieben und für die Reaktion verpflichtend. Diese beiden Welten stehen sich auch heute wieder gegenüber. Es geht ökonomisch um die Abwehr der Verewigung der Unverzichtbarkeit von Lohnsklaverei, ideologisch um die Abwehr der Verewigung der ideologischen Konfusion: Geschichte sei bisher nicht klassenlos-klassenkämpferisch verlaufen – das ist eine der großen Lügen der bürgerlichen Gesellschaft: Sie sei nicht auf den Klassenkampf aufgebaut. Eine weitere folgt daraus: Die Produzenten seien keine gesellschaftliche Kraft und spielten keine weltgeschichtliche Rolle – die Marx 1844 entdeckte. Es setzt sich fort mit der Lüge, durch den bürgerlichen Parlamentarismus sei eine Klassenteilung überwunden. Das alles gipfelt im Revisionismus: Die Bewegung ist alles, das Endziel ist nichts. Bürgerliche Ideologie, stets die materialistische Grundlage der geschichtlichen Bewegung verkennend, tritt destruktiv gegen jede gesellschaftswissenschaftliche Rationalität auf. Lenin schreibt über das Wirken von Karl Marx: „Das Chaos und die Willkür, die bis dahin in den Anschauungen über Geschichte und Politik geherrscht hatten, wurden von einer erstaunlich einheitlichen und harmonischen wissenschaftlichen Theorie abgelöst, die zeigt, wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen Lebens, als Folge des Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form entwickelt – wie zum Beispiel aus dem Feudalismus der Kapitalismus hervorgeht.“⁶
- Vergleiche Lenin, Über Hegelsche Dialektik, Reclam Verlag Leipzig, 1988, 46.
- Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 19860, Seite 482.
- Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Werke, Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 270).
- Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, Werke, Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 102f.
- Lenin: Der ‘linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Werke, Band 31, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 26
- Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, Werke, Band 19, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 5.
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