
Heinz Ahlreip – 19. Mai 2025

Vor 200 Jahren, am 19. Mai 1825, starb Claude Henri Comte de Saint-Simon – also von adeliger Herkunft – eine Schlüsselfigur des utopischen Sozialismus. Er wurde 1760 in Paris geboren und starb im Alter von 65 Jahren ebenfalls dort. Wie seine geistigen Vorfahren, die bürgerlichen Aufklärer und Vorbereiter der Französischen Revolution, wollte er klassenneutral die gesamte Menschheit befreien. 1789 fraternisierte der Dritte Stand kurzzeitig mit dem Vierten, da er diesen benötigte – für einen Augenblick in der Weltgeschichte sah es aus wie eine einzige Brüdergemeinde.
Saint-Simon war eine Schlüsselfigur auch deshalb, weil er 1816 die Politik als Wissenschaft der Produktion deutete. Braucht eine gesunde, sprich: transparente und geplante Produktion von Gütern überhaupt Politik? Wie hängen die Anarchie der Produktion, Politik und die Verletzung menschlicher Würde, etwa im Parlamentskrakeel, zusammen? Der Politpöbel kann im Parlament die Sau rauslassen, der Arbeiter in der Fabrik nicht. An diese Zusammenhänge tastete sich der utopische Sozialismus heran – als Vorläufer des wissenschaftlichen Sozialismus. Noch mehr: Politik soll völlig in der Produktion aufgehen, die dunklen Regenwolken der Politik sollen verschwinden, und die Sonne scheinen ohne Unterlass. Reaktionäre Politik erkennt man an ihrem Verewigungsdrang: Augen verbinden, Fenster vergittern, Polizeistiefel ins Gesicht – erbärmliche Menschen unter düsterem Gewölk in der Höhle frieren und früh sterben zu lassen. Reaktionäre Politik sperrt Menschen vom Frohsinn und vom Licht aus, deformiert zu Mumien, zertritt Blumen. Ohne Politik lebt der Mensch besser als mit ihr – die Produktion lebenswichtiger Güter jedoch kann er nicht aufheben.
Und kommunistische Politik? Kommunismus und Politik sind ein historisch vorübergehendes Wortpaar. Christentum und Politik hingegen nicht – denn Christen wollen politische Herrschaft und den ihr innewohnenden Terror verewigen. Nach Merzens Amtsperioden soll ein anderer Christ das Volk noch mehr an den Bettelstab bringen. Der junge Marx schrieb gegen die verkommene alte Welt:
„Die Revolution überhaupt – der Umsturz der bestehenden Gewalt und die Auflösung der alten Verhältnisse – ist ein politischer Akt. Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er der Zerstörung und der Auflösung bedarf. Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg.“¹
Gut gesprochen, alter Maulwurf. Wegschleudern! Der Revisionismus glättet, wie ein rauschender Bach Kiesel rundet. Es heißt immer noch: Der Kommunismus ist der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit.² Revisionisten mögen keine Sprünge – weder in der Natur noch in der Gesellschaft.
Der große Gedanke, der für die sozialistische Bewegung auf Saint-Simon zurückgeht, ist der, dass er einen Gesellschaftszustand für möglich hält, in dem es anstelle von Gefängnissen und politischer Verwaltung nur noch die bloße Verwaltung von Sachen und eine Leitung der Produktionsprozesse gibt – also, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, die öffentliche Gewalt ihren politischen Charakter verloren haben wird.³ Für die Aufklärer und Utopisten vermittelte sich menschliche Emanzipation über menschliche Vernunft: durch richtiges Denken beseitige man gesellschaftliche Missstände. Es galt, die Unwissenheit als Quelle sozialer Gebrechen zu überwinden.
Ein Schüler Saint-Simons, Saint-Armand Bazard, veröffentlichte 1829/30 eine Darstellung von dessen Lehre, die unmittelbar auf das Kommunistische Manifest einwirkte. Das war unausbleiblich, war er für Marx doch ein Wortführer der arbeitenden Klasse. Saint-Simon, Fourier, Marx und Engels forderten übereinstimmend den gleichen Arbeitszwang für alle. Die Utopisten arbeiteten dem wissenschaftlichen Sozialismus regelrecht vor.
Im Manifest findet sich ein Abschnitt im Teil III: „Sozialistische und kommunistische Literatur“, überschrieben mit: „Der kritisch-utopistische Sozialismus und Kommunismus“. Darin heißt es, der Versuch von 1789, das proletarische Klasseninteresse direkt durchzusetzen, sei gescheitert. Die Bedingungen für eine proletarisch-sozialistische Umwälzung waren noch nicht reif, sodass die utopischen Ideologen die Arbeiterklasse nur als leidende begriffen und ihre weltrevolutionäre Rolle nicht erkannten. Sie schwebten über den Klassen, gebaren in ihren Köpfen ideale Gesellschaftsmodelle – klassenneutral, für alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft. Von außen her, aus ideal geformter Vernunft, sollte die Befreiung kommen. Das Ideal war vorgezeichnet, die Vernunft musste sich zu ihm nur noch hochbilden. Das war idealistisch gewiss – die Wirklichkeit steuert sich der gedanklichen Vorgabe gemäß zum höchsten Gut.
Man gab Beispiele und Experimente: Albert Brisbanes Brook Farm bei Boston, eine gute Einrichtung harmonischen Zusammenlebens; Owens Musterkolonie New Harmony in den USA, seine Warentauschbörse in London. Die Kinder wurden zur produktiven Arbeit angehalten – und außen herum tobte der Kapitalismus.
Für Marat waren die Arbeiter Frankreichs – vorwiegend Bauern, da es noch wenig städtische Handwerker gab – der gesündeste Teil der Nation. Marat: eine rühmliche Ausnahmestimme unter den kleinbürgerlichen Sansculotten. Saint-Simon erkannte bereits in seinen Frühschriften die Bedeutung der Arbeiterklasse, was Fourier erst später begriff. Doch allen drei großen utopischen Sozialisten ist gemein: Sie erkannten die Arbeiter nicht als sich selbst bewegende Klasse, sondern nur als leidende. Die in ihr steckende historische Kraft wurde erst Engels während seines Manchesteraufenthaltes 1842 bis 1844 bewusst.
Marx und Engels betonen positiv, dass die Utopisten höchst wertvolles Material zur Aufklärung der Arbeiter und zur Zerstörung der Grundlagen der bestehenden Gesellschaft geliefert haben. Owen, Saint-Simon und Fourier traten um 1800 erstmals theoretisch in Erscheinung und standen in Konkurrenz zueinander – wie Fouriers Schrift Fallstricke und Quacksalberei der beiden Sekten Saint-Simon und Owen zeigt. Der utopische Sozialist Saint-Simon wurde in Frankreich vorbereitet durch die Aufklärer und die französischen Materialisten. Er und Fourier knüpften direkt an diese an. Diderot und Rousseau waren exzellente Dialektiker, der französische Materialismus der radikalste in Europa – in den Atheismus hineinreichend. Es ergaben sich sozialistische Gesellschaftsperspektiven: Neben der klassischen deutschen Philosophie und der englischen politischen Ökonomie war der radikale materialistische Sozialismus eine der drei Quellen des Marxismus-Leninismus.
Der utopische Sozialismus stellt das Bindeglied zwischen dem französischen Materialismus und dem Marxismus-Leninismus dar. Saint-Simon hat die ökonomischen und politischen Widersprüche des aufkommenden Kapitalismus tief durchdrungen. Überall ragt in seinen Werken der historische Sinn hervor. Der girondistisch gesinnte Aufklärer Condorcet, wie Fourier ein Verteidiger der Frauenemanzipation, hatte im Fahrwasser des mechanischen Materialismus ein stufenförmiges Bild menschlicher Vervollkommnungsfähigkeit entworfen. Für Saint-Simon muss die ab 1789 einsetzende Emanzipation die besten Lebensbedingungen für alle zum Ziel haben. Wissenschaft und Produktion dienen dem Allgemeinwohl. Gefordert wird eine neue Enzyklopädie – eine über Diderot hinausgehende in der Wissenschaft – und eine neue Gesellschaftsordnung. Nichts ist charakteristischer als die Titel zweier Werke Robert Owens: Eine neue Auffassung von der Gesellschaft (1812–1814) und Entwurf des rationellen Systems der Gesellschaft (1832), sowie Die Revolution im Tun und Denken der Menschheit (1849) – der Übergang von der Unvernunft zur Vernunft, oder wie die Materialisten sagen: vom Nichtwissen zum Wissen.
Nach Engels (1874) und Lenin steht der theoretische Sozialismus auf den Schultern von Saint-Simon, Owen und Fourier.⁴
Nicht unerwähnt bleiben darf: Saint-Simon kämpfte als Soldat im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg unter General Washington – was ihn progressiv und anti-royalistisch prägte. 1789 kehrte er nach Frankreich zurück und nahm aktiv an der von ihm anerkannten Revolution teil. Die bürgerliche Geschichtsschreibung ehrt nur La Fayette als General zweier Kontinente – wir Sozialisten müssen auch Saint-Simon Achtung zollen. Bereits 1802 geht er über den bürgerlichen Horizont hinaus. In seinen Genfer Briefen deutet er die Revolution nicht bloß als Kampf zwischen Adel und Bourgeoisie, sondern erkennt die Besitzlosen als treibende Kraft. Nach Engels war das 1802 eine geniale Entdeckung. Zehn Jahre nach Marat spricht er 1802 als erster utopischer Sozialist die Arbeiter direkt an – in den Genfer Briefen, in denen er die Bedeutung der arbeitenden Menschen für das Gemeinwohl hervorhebt.
Saint-Simon ist schriftstellerisch überragend aktiv: 1807/08 erscheint seine Einführung in die wissenschaftlichen Arbeiten des 19. Jahrhunderts, 1813 folgen Denkschrift über die Wissenschaft vom Menschen und Abhandlung über die allgemeine Gravitation.⁵ Letztere deutet das Gravitationsgesetz als Einheit der Welt und Grundgesetz des Kosmos. Feste und flüssige Materie befinden sich im ständigen Kampf – er ringt um materialistische, dialektische Elementarien zur wissenschaftlichen Welterklärung – Beiträge zur Überwindung des kartesianischen, mechanischen Materialismus. Fourier bringt es später zu einer dialektischen Meisterschaft, die Engels neben die Hegels stellt. Für Condorcet verläuft menschlicher Fortschritt linear; Saint-Simon unterbricht diese Harmonie durch Kriseneinschübe; Fourier denkt Fortschritt und Rückschritt in Natur und Gesellschaft zusammen. Saint-Simon verwirft jede zyklische Geschichtsauffassung – die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ ist für ihn stumpfsinnig. Fourier sieht im Fortschritt sogar die Ursache des Untergangs – wie auch Marx und Engels im Manifest vom gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen sprechen.⁶
Im Zentrum von Saint-Simons Denken steht die anti-feudale Gesellschaftskritik. Adel und Klerus greift er direkt an – vom Standpunkt der Industrie, der Technik und der Wissenschaft aus. Schließlich öffnet sich ihm die Bedeutung des Proletariats. Der adelige Comte bewegt sich von der Industriebourgeoisie über die Wissenschaftsbourgeoisie zum Proletariat. Dieses könne die Gesellschaft besser führen als Unternehmer – es brauche keine fremde Anleitung. Die kapitalistische Gesellschaft müsse so umgeordnet werden, dass Regierungstätigkeit – also Herrschaft über Menschen – durch Verwaltung von Sachen ersetzt werde.
Dies vertieft er 1821 im Brief an die Arbeiter, sowie in den Entwürfen über das Elend des Proletariats und Über das Industriesystem. 1825 folgt sein Hauptwerk: Das neue Christentum.
Er denkt bereits in gesellschaftswissenschaftlichen Kategorien, was die künftige Entwicklung betrifft – doch das „Wie?“, der Weg zum Sozialismus, bleibt dunkel. Zwei Erkenntnisse ragen bis in unsere Zeit: Erstens bildeten die Besitzlosen die treibende Kraft der bürgerlichen Revolution von 1789. Sie verrichteten die revolutionäre Arbeit – zum Nutzen der Bürger –, gingen aber über deren Rahmen hinaus. Zweitens: Die Besitzlosen von heute werden die Leiter der Produktion von morgen sein.
- Karl Marx: Randglossen zu den Notizen eines Preußen, Werke, Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 409.
- Vergleiche Friedrich Engels: Anti-Dühring, Werke, Band 20, Dietz Verlag, Berlin, 1960, Seite 264.
- Karl Marx: Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 482.
- Vergleiche Friedrich Engels: Vorbemerkung zu ‘Der deutsche Bauernkrieg‘ (Ausgabe 1870 und 1875), Werke, Band 7, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 541.
- Vergleiche Dietrich Eckhardt Franz: Claude Henry Comte de Saint-Simon in: Philosophenlexikon, Dietz Verlag Berlin,1984, Seite 805.
- Vergleiche Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 462.
Über den Autor:
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse. Ahlreip arbeitete als Lagerarbeiter u. a. bei Continental in Hannover und bis zum Rentenbeginn als Gärtner für Museumsstätten und Friedhöfe.
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