Die Gründung der Geschichtswissenschaft 1847/48

Friedrich Engels und Karl Marx | Bildliche Rekonstruktion Redaktion RoterMorgen, 2025

Redaktion – 14. Mai 2025

Oft braucht die Menschheit jahrtausendelange Durststrecken, um hinter relativ einfach zu lösende Geheimnisse der Wissenschaft zu kommen. Dann ist in einem Augenblick alles klar und handgreiflich deutlich. Für Marx und Engels kam als materialistischen Wissenschaftlern erschwerend hinzu, dass der Materialismus durch den damals schwergewichtigen Hegelianismus im Raum der Wissenschaft in Deutschland – anders als in Frankreich und England – an die Wand gedrückt wurde. Hegel zum Beispiel vertrat den abstrusen Gedanken, durch die lutherische Reformation erübrige sich in Deutschland eine Revolution in der radikalen Gestik Robespierres und mit der wuchtigen Kontur eines Marat.

Als die ersten ausgereiften Werke des Marxismus gelten nach Lenin zwei Schriften von Marx und Engels, in denen u. a. klassische Fundamente des historischen Materialismus gelegt wurden. Wir werden in ihnen Zeugen, dass beide Revolutionäre und Wissenschaftler nicht eine dogmatische Fahne aufpflanzten, sondern der Welt aus deren Prinzipien neue entwickelten.¹ Neue Erkenntnisse ergaben sich aus einem tätigen Praxisbezug zur gesellschaftlichen Klassenwirklichkeit im Zusammenhang mit deren progressiven Umgestaltung.

In der Schrift Das Elend der Philosophie, die Marx allein um die Jahreswende 1846/47 verfasst hatte, finden wir einen ganz schlichten, gleichwohl ganz zentralen Satz – einen Satz in einer Nussschale. Immer zeichnen solche Direktivsätze große Meisterwerke aus: dass der Verfasser über die Souveränität verfügt, bisher komplex Dargelegtes in ein, zwei Zügen auf den Punkt zu bringen. Im Elend der Philosophie finden wir den markigen Satz:
„Eine Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“²

In dieser Nussschale steckt eine Menge. Es steckt in ihr die zentrale Bedeutung der Produktionsmittel – dass sie die gesellschaftliche Arbeitsorganisation bestimmen. Eine Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren: ein Grundgehalt des historischen Materialismus. Ein paar Atemzüge weiter lesen wir:

„Wir leben inmitten einer beständigen Bewegung des Anwachsens der Produktivkräfte, der Zerstörung sozialer Verhältnisse …“³

Wie wahr, wie wahr! Regelmäßig zu verfolgen ist zum Beispiel die Zwangsräumung von Wohnungen armer Studenten durch Gerichtsvollzieher und Polizei. Zerstörung von sozialen Verhältnissen – das ist der Profitkitzel des Kapitals, der in der bürgerlichen Gesellschaft über alles gehen darf, auch über Leichen (Touray, Lorenz A.), weil er über allem steht. Die Bourgeoisie trägt der bürgerlichen Gesellschaft mit humanistisch klingenden Worten Schminke auf; der Marxismus trägt diese wieder ab und deckt die hässliche, menschenverachtende Terrorfratze des Hemmschuhs jeglicher kulturellen Entwicklung auf. Ja – in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts fallen im Marxismus Würfel, die Bahnen aufbrechen, insbesondere die Bahn zum Kommunismus als Reflex der technisch-industriellen Revolution. Die Fabrikliteratur war damals noch eine periphere Angelegenheit, das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital war ökonomisch lediglich der intersubjektive Dreh- und Angelpunkt der ganzen bürgerlichen Gesellschaft geworden. An diesem knüpfte Marx explizit nicht an zur Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft, obwohl der Kapitalismus die Auflösung der feudalen Leibeigenschaft voraussetzt.

Ein halbes Jahr nach Marxens Elend der Philosophie hatte Engels im Oktober/November 1847, also unmittelbar vor der Gemeinschaftsarbeit Manifest der kommunistischen Partei, geschrieben im Dezember 1847 / Januar 1848, also kurz vor der Februarrevolution, eine Studie verfasst, in der er die Grundsätze des Kommunismus darlegte – wahrlich seine Vorarbeit für das kommunistische Manifest. Dieses bildet in einigen Zügen nur sauber gefeilte Sätze aus den Grundsätzen ab. Der Kernsatz bezüglich der Herausbildung einer kommunistischen Gesellschaft von Engels lautet 1847:
„Die große Industrie schuf die Mittel, die industrielle Produktion in kurzer Zeit und mit wenig Kosten ins Unendliche zu vermehren.“⁴

Engels will sagen: Ohne technisch-industrielle Revolution und ihren Ausgangspunkt würden die materiellen Voraussetzungen des Kommunismus fehlen – in dem in einer Überflussgesellschaft der Überfluss planmäßig und kollektiv distribuiert wird, zunächst noch nach gesellschaftlicher Arbeitsleistung, sodann nach individuellen Bedürfnissen. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen – so lautet der bekannte Satz von Marx 1875. Ein Leben nach diesen Prinzipien kann gegen in Klassen gespaltene Gesellschaften nur durchgesetzt werden durch die vereinigten Arbeiter aller Länder, wie es am Schluss des Manifestes heißt. Endlich dann im kommunistischen Manifest die Quintessenz fünfzehnjähriger Forschungsarbeit:
„Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse …“⁵

Für Marx und Engels beginnt ökonomisch mit diesem Satz die materialistische Geschichtswissenschaft. Das Wort nur meldet den Herrschaftsanspruch gegenüber traumtänzerischen Historikern an, die sich einbildeten, geschichtswissenschaftlich zu verfahren und Objektives darzulegen.

Dass die moderne Geschichte eine der Empörung ist – mal stärker, mal schwächer – das macht politisch den roten Faden aus. Je mehr das Manifest revisionistisch gelesen wird, desto tiefer sinkt das Fieberthermometer der Empörung. Die Permanenz, überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände zu unterstützen,⁶ das thront am Ende des Manifestes, das man von Anfang bis zum Ende mit möglichst gleichbleibender Konzentration lesen muss.

Ohne Empörung aus ökonomischen Gründen und ohne die aus diesen entstehenden politischen Konsequenzen – unabhängig von Raum und Zeit – bliebe der junge Marxismus ein Torso. Ein Naturgesetz gilt überall unabhängig von Raum und Zeit. Haben wir hier am Ende des kommunistischen Manifestes nicht das Naturgesetz der proletarischen Revolution vorliegen: überall jede Revolution zu unterstützen?

In diesem kleinen Wort nur steckt das Scheitern der letzten großen Anstrengung der klassischen deutschen Philosophie mit Hegel an der Spitze, den Geist in einer durch Nominalismus, mechanischen Materialismus und bürgerliche Aufklärung herbeigeführten Verzerrung in einer geistfeindlichen Zeit zu retten. Auf idealistische Art versuchte Hegel, durch durchaus religiös geprägte Vorgabe absoluter Erkenntnis die Souveränität des Geistes über die Welt zu erheben und zu erhalten – durch die Behauptung des Ideals, die göttliche Größe der Erkenntnis auch menschlich erreichen zu können. Der Atheist Engels muss das gegen die Christenheit anders sehen:

„Sobald wir einmal eingesehn haben – und zu dieser Einsicht hat uns schließlich niemand mehr verholfen als Hegel selbst –, dass die so gestellte Aufgabe der Philosophie weiter nichts heißt als die Aufgabe, dass ein einzelner Philosoph das leisten soll, was nur die gesamte Menschheit in ihrer fortschreitenden Entwicklung leisten kann – sobald wir das einsehn, ist es auch am Ende mit der ganzen Philosophie im bisherigen Sinn des Worts. Man lässt die auf diesem Weg und für jeden einzelnen unerreichbare ‚absolute Wahrheit‘ laufen und jagt dafür den erreichbaren relativen Wahrheiten nach – auf dem Weg der positiven Wissenschaften und der Zusammenfassung ihrer Resultate vermittelst des dialektischen Denkens.“7

Noch die Linkshegelianer, die sich selbst einschätzten, kluge und progressive Köpfe zu tragen, beteiligten sich an diesem reaktionären Rettungsversuch. Marx und Engels verstanden sich als konsequente Revolutionäre in den Diensten der Arbeiterklasse und des Atheismus. Die Arbeiter erkannten durch das Studium der Werke von Marx und Engels mehr und mehr, dass man weltliche Fragen nicht in theologische auflösen darf, sondern theologische in weltliche auflösen muss. Der Welt entstand eine neue fortschrittliche materialistische Geschichtswissenschaft – auch aus einer wissenschaftlichen Grundhaltung heraus, eigentlich selbstverständlich: die Welt mit nüchternen Augen zu betrachten.8

Es ereignete sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein gigantischer Umbruch, dessen Antipoden subjektiv Hegel und Marx waren, objektiv war es die technisch-industrielle Revolution. Es drückte sich Engels bei seinem Manchesteraufenthalt von 1842 bis 1844 förmlich auf, dass das, was die Wissenschaftler bisher in den Anmerkungsapparat verbannt hatten – die ökonomische Struktur einer Gesellschaft –, das eigentlich Leitende war. Hegel wollte das ganze Wesen des ganzen Universums mit religiösem Brimborium ergründen – nur das Ganze sei das Wahre; Marx reduzierte diesen ganzen Gigantismus auf eine einzelne Ware als ökonomische Zellenform der bürgerlichen Gesellschaft. Diese auszuwickeln ist der Inhalt des Kapitals. Wären die europäischen Völker ideologisch dem Hegelianismus gefolgt, wäre es 1871 nicht zum Ausbruch der Pariser Kommune gekommen. Den Samen zu diesem hatten Marx und Engels ab 1837 gelegt.

  1. Vergleiche Karl Marx: Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, Werke, Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 345.
  2. Karl Marx: Das Elend der Philosophie, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 130.
  3. a.O.
  4. Friedrich Engels: Grundsätze des Kommunismus, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 369.
  5. Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 467.
  6. a.O., Seite 493.
  7. Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Werke, Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 270).
  8. Vergleiche Karl Marx: Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 465.

Dieser Artikel fußt auf eine Vorlage von Heinz Ahlreip. Eine Weiterveröffentlichung des Textes ist gemäß einer Creative Commons 4.0 International Lizenz ausdrücklich erwünscht. (Unter gleichen Bedingungen: unkommerziell, Nennung der verlinkten Quelle (»Der Weg zur Partei«) mit Erscheinungsdatum).
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