Alles, was die Welt bewegt

Heinz Ahlreip

Alles, was die Zivilisation hervorbringt, ist nach Engels doppelseitig, doppelzüngig, in sich gespalten und gegensätzlich.1 Unsere Zeit ist vornehmlich eine, in der nur die bewusste dialektische Widerspiegelung der Wirklichkeit Sinn macht, ohne dass eine dialektische Widerspiegelung der Wirklichkeit auf unsere Zeit begrenzt werden kann.  

Wir finden tiefe dialektische Gedankengänge schon in den Werken Heraklits, Rousseaus, Fouriers und Hegels. Bewusste Widerspiegelung der Wirklichkeit unter ständiger Vertiefung des Studiums dialektischer Prozesse, sowohl in der Natur als auch in der Geschichte und Gegenwart, sind doch die großen, Wissenschaft verbürgenden Überschriften unseres Lebens und unserer Gegenwart. Diese rationalen Widerspiegelungen allein geben die Merkmale ab, an dem sich die Wissenschaft vom Nichtwissen scheidet. Dies umso mehr als gerade imperialistische Ideologien, die mit allerhand aktuellen Modeworten jonglieren, über den Kapitalismus hinausführende gesellschaftliche Umwälzungsprozesse hinter der Maske von Wissenschaftlichkeit als unhaltbar, nicht der Natur des Menschen gemäß brechen müssen.

Exkurs: Ohne Zweifel hat der Imperialismus die gesellschaftlichen Dispositionen von seiner Seite aus auf Vernichtung ausgerichtet. Zum Beispiel kämpften 14 imperialistische Truppenkontingente nach 1917 gegen Russland zwecks Abwürgens der Oktoberrevolution, 2 x Russlandfeldzug im Kontext von Weltkriegen, 4 Vernichtungsfeldzüge Tschiang Kai Scheks gegen die Truppen Maos, Hiroshima und Nagasaki. Unvergessen bleiben auch die Worte des US-amerikanischen Luftwaffenkommandeurs  General Curtis LeMay während des Vietnamkrieges: Er wolle Vietnam in die Steinzeit zurückbomben, was seiner Strategie massivster Luftangriffe entsprach. Militärisch brachten sie wenig ein, aber Millionen tote Zivilisten am Boden Vietnams, Laos und Kambodschas. Und gerade diese Elemente nehmen das Wort vom Steinzeitkommunismus Pol Pots in den Mund (Ende des Exkurses).

Einer der lebendigsten Widersprüche unserer Zeit, dessen Auflösung einem Sprung in der menschlichen Emanzipationsgeschichte gleichkäme, ist ein Umstand im marxistischen Kontext. Auf der politischen Linie ist alles klar: Zwei große feindliche Lager stehen sich gegenüber: Bourgeois und Proletariat. Die großen Klassenkampflinien sind bereits vorgezeichnet, der unvermeidlich kommende Bürgerkrieg ist bereits ablesbar, das Verfolgen der Wahlkämpfe, und vor allem die Analyse der Wahlergebnisse daher erste Pflicht. Auf der ökonomischen Linie hingegen ist nichts klar: Im Verblendungszusammenhang des Fetischcharakters der Ware, wissen die Menschen nicht was sie tun, kein Halt, keine Orientierung, kein vorausleuchtender Stern, keine Ratio, nur das Wirrwarr der Warenproduktion, der immer wieder gegen die wissenschaftliche Forschung querschlägt.  In diesem Bereich ziehen daher immer wieder Wolken des Irrtums vor den Himmel der Wahrheit. Die Warenproduktion liebt es, sich zu verbergen. Der Schwerpunkt marxistischer Aufklärungsarbeit ergibt sich hier von allein. Aber ist diese Ungleichgemäßheit zwischen Politik und Ökonomie nicht sittenwidrig? Keineswegs! Deutschland war im 18. Jahrhundert im Vergleich mit Frankreich und England in ökonomischer Hinsicht das rückständigste Land, mit seiner klassischen Philosophie und ihrer hervorragenden Frucht, der Hegelschen Dialektik, in theoretischer Hinsicht das führende Land.  Weder hat der utopische Sozialist Saint-Simon noch der utopische Sozialist Robert Owen eine wissenschaftliche Methode zu Papier gebracht, die man der Hegelschen an die Seite stellen könnte. Fest steht aber auch, dass erst die Angleichung politischer und ökonomischer Klarheiten das Terrain der proletarischen Revolution ebnet. Engels sagte 1886, alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muss durch ihren Kopf hindurch.2 Und dabei ist wissenschaftsgeschichtlich anzusetzen mit dem Bruch des Mutterrechts, philosophisch mit der neuzeitlichen bürgerlichen Philosophie und ihren Handicaps.  

Gleich zu Beginn der neuzeitlichen, von Descartes begründeten Philosophie des Rationalismus finden wir eine eigentümliche dialektische Begebenheit vor. In seinem Denken glänzt der Rationalismus in seiner ersten Reinheit, die Descartes selbst als Frucht einer jahrelangen Weltabgeschiedenheit ausgab, und bleibt doch eigentümlich in einem Milieu der Zwielichtigkeit. Der Rationalismus fällt nach beiden Seiten aus. So richtig die Erkenntnis ist, dass die Sonne nach mathematischen Berechnungen größer sein muss als unsere Sinne sie uns erscheinen lassen, so einseitig bleibt doch ein an bloßem Denken orientiertes Leben. Hier hat der Rationalismus insofern Schlagseite, als dass aus der Tatsache, dass andere Hände das ausführen können, was andere Köpfe vorhergedacht haben, nicht nur der Grund der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, die nicht in einer Person verbunden sind, nicht nur der Grund des Auseinanderdriftens von Theorie und Praxis vorliegt, sondern auch der Vorrang der letzteren, die in sich den Keim des Bürokratismus trägt.  Alles ist doppelseitig. Diese Weltabgeschiedenheit holt noch die klassische deutsche Philosophie ein, Hegel spricht in seiner Philosophie der Religion von den Philosophen als von einem isolierten Priesterstand, der mit der Welt nicht zusammengehen dürfe. Wie die Welt sich aus ihren Widersprüchen herausfinde, bleibt ihr überlassen und ist nicht die unmittelbare Aufgabe der Philosophie. Lenin, vermittelt durch die von Marx und Engels in der ‘Heiligen Familie‘ herausgearbeitete Bedeutung der Volksmassen in der Geschichte, wird im ‘Linken Radikalismus‘ etwas ganz anderes fordern, nämlich dass die Bolschewiki sich bis zu einem gewissen Grad gerade mit den Massen verschmelzen müssen. Auch diese Sachverhalte deuten auf die unüberbrückbare Gegensätzlichkeit zwischen Materialismus und Idealismus hin.

Die Urschrift des europäischen Rationalismus, die Meditationen des Descartes, wurden von den Philosophieprofessoren der Pariser Sorbonne als Dissertation abgewiesen. Der Instinkt dieser Professoren, die im innersten Kern Theologen waren, führte sie auf einen richtigen Weg. In diesem Zusammenhang ist an das große Wort des Arbeiterphilosophen Dietzgen den Älteren zu erinnern, dass die Philosophen in der Regel diplomierte Lakaien der Pfafferei seien. Die Philosophietheologen witterten die Gefahr, die vom Rationalismus für die Religion ausging. War es Tarnung und Opportunismus, dass Descartes noch zwei Gottesbeweise in seine Meditationen eingebaut hatte? Der Rationalismus will klare Erkenntnisse von der Qualität mathematischer Evidenz begründen, und das mögen Dunkelmänner gleich welcher Konfession nun einmal nicht. Der Kirchenvater Thomas von Aquin hatte zielsicher gegen die Naturwissenschaftler seiner Zeit stets eine gewisse Schwammigkeit der Natur ins Feld geführt, so dass es gar keine gesicherten naturwissenschaftliche Erkenntnisse geben könne; er fand in Galileo Galilei seinen Antipoden, der von der Exaktheit gerade der Naturwissenschaften ausging. Wo wären wir heute nicht nur in technischer Hinsicht, hätte sich nicht im Gefolge bürgerlicher Emanzipationen die Linie Galileis wissenschaftsgeschichtlich durchgesetzt.

Das Wort Mystik stammt von myein – die Augen schließen. Dann kann man keine Sonne mehr sehen. Noch in Hegels pädagogischen Konzepten finden wir den idiotischen idealistischen Gedanken, der Jugend müsse vor dem Studium erst einmal Hören und Sehen vergehen. Wird in Vorlesungen nicht zugehört? So weist der orientalische Derwisch mit seinen orgiastischen Verzückungen Anzeichen von Blödheit auf – Taumel, Suff, Koma – Horrorworte für Rationalisten. Engels schreibt 1886 in seiner Studie über Ludwig Feuerbach und den Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, dass die Religion entstanden sei in einer sehr waldursprüglichen Zeit aus waldurprünglichen Vorstellungen der Menschen über ihre eigene und die sie umgebende Natur.3 Das bleibt trotz allen modischen Aufmotzens Richtung Zeitgemäßheit der Kern der Religion. Aber das deutsche Volk, insbesondere die Arbeiterklasse, hat nicht nur das Pfaffenpack beider Konfessionen zum Feind, es genügt bereits geringe marxistische-leninistische Beleuchtung, um die Waldursprünglichkeit der Grünen ans Tageslicht zu fördern. Die Grünen sind die sich in Wäldern herumtreibenden Schweinepriester unserer Zeit.

  1. Vergleiche Friedrich Engels, Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: Marx, Engels: Ausgewählte Schriften, Band 2, Dietz Verlag Berlin, 1972, Seite 206
  2. Vergleiche Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Werke, Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 298.
  3. Vergleiche a.a.O., Seite 303.

 

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Über den Autor:

Heinz Ahlreip, geb. am 28.2.1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse. Ahlreip arbeitete als Lagerarbeiter u. a. bei Continental in Hannover und bis zum Rentenbeginn als Gärtner für Museumsstätten und Friedhöfe.
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