Julius Jamal

Weniger Rettungsschiffe bedeutet,
dass mehr Menschen sterben

Im Gespräch mit Franziska von Sea-Watch

Julius Jamal

Immer wieder sterben Menschen auf der Flucht übers Mittelmeer und diejenigen, die ihnen helfen wollen, werden immer weiter kritisiert. Wir haben mit Franziska von Sea-Watch über die zunehmende Kriminalisierung von Flucht und gesprochen.

Die Freiheitsliebe: Sea-Watch gibt es nun schon seit fast vier Jahren. Wie kam es zur Gründung?

Franziska:  Ganz einfach: Wir wollten dem Sterben auf dem Mittelmeer nicht mehr tatenlos zusehen. 2014 war die Flucht über das Mittelmeer die weltweit gefährlichste Route für Migrantinnen und Migranten. Vier Familien aus Brandenburg haben sich Ende 2014 zusammengetan und Sea-Watch aus der einfachen Erkenntnis heraus gegründet, dass die Europäische Union kein Interesse an der Rettung von geflüchteten Menschen in Seenot hat, im Gegenteil – mit dem Ziel, dass so wenige Geflüchtete wie möglich Europa erreichen und ihr Recht auf Asyl in Anspruch nehmen, schottet sich Europa immer mehr ab und nimmt damit wissentlich tausendfaches Sterben auf dem Mittelmeer in Kauf. Dieser tödlichen Politik stellen wir uns entgegen. Unsere Überzeugung ist klar: Niemand soll auf der Flucht über das Mittelmeer sterben, da gibt es keine Diskussionen.

Als Ende 2014 die italienische Seenotrettungsoperation „Mare Nostrum“ nicht von der EU übernommen und eingestellt wurde, entstand eine tödliche Lücke, die wir so rasch wie möglich schließen wollten. Im Juni 2015 sind wir von Lampedusa schließlich zu unserer ersten Rettungsmission aufgebrochen. Bis heute haben die ehrenamtlichen Crews der drei Sea-Watch Schiffe mehr als 37.000 Menschen aus Seenot gerettet. Rund 1000 Menschen wären außerdem allein 2017 zusätzlich gestorben, wenn unsere Aufklärungsflugzeuge Moonbird und Colibri nicht im Einsatz gewesen wären. Mit mittlerweile knapp 500 Ehrenamtlichen aus der ganzen Welt und einer breiten Solidarität aus der Zivilgesellschaft, Städten, Kommunen und einzelnen Politikerinnen und Politikern setzen wir uns der tödlichen europäischen Migrationspolitik aktiv entgegen.

Die Freiheitsliebe: Wie hat sich eure Arbeit in den letzten Jahren verändert?

Franziska: Unser Ziel bleibt gleich: Wir wollen Menschen vor dem Ertrinken retten und in einen sicheren Hafen bringen (wozu Libyen übrigens nicht zählt). Allerdings hat sich die Situation in vielerlei Hinsicht verschärft. Trotz regelmäßiger Beteuerungen der Europäischen Staaten, Maßnahmen zur Verbesserung der Situation zu setzen, wurden weder Fluchtursachen adressiert, noch sichere Fluchtrouten geschaffen. Im Gegenteil, die EU kooperiert mit der sogenannten Libyschen Küstenwache zur Verhinderung von Migration nach Europa. Ein Truppe aus Warlords und Menschenschmugglern, die regelmäßig und im Auftrag der EU das Völkerrecht bricht.

Fluchtursachen bestehen aber weiterhin und gerade die Situation in Libyen ist so, dass dort über eine halbe Million Menschen festsitzen – für diese Menschen gibt es keinen Weg zurück. Wie untragbar die Situation in den libyschen Lagern ist, ist mittlerweile ausreichend bekannt. Da sich also Menschen – mangels legaler und sicherer Fluchtrouten – weiterhin auf den Weg über das Mittelmeer nach Europa machen, hat sich der Bedarf und die Dringlichkeit von Seenotrettung nicht verringert. Was sich allerdings geändert hat, ist der Umgang mit zivilen Seenotrettungsinitiativen – wir werden immer offener blockiert, kriminalisiert und am Retten gehindert. Der Rechtsruck in Europa befeuert einen menschenfeindlichen Diskurs, in dem zivile Seenotrettung immer stärker diffamiert und bekämpft wird.

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Die Freiheitsliebe: Immer wieder kommt es zur Beschlagnahmung von Schiffen, wie wehrt ihr euch dagegen?

Franziska:  Das stimmt, immer wieder werden Schiffe von zivilen Seenotretterinnen und Seenotrettern festgesetzt, so wie gerade erst diesen März die Mare Jonio unserer Partnerorganisation Mediterranea. Nach der Rettung von 49 Menschen in Seenot musste das Schiff in Lampedusa der italienischen Polizei übergeben werden, gegen den Kapitän wurden Ermittlungen eingeleitet. Im Gegensatz zum italienischen Vize-Premier Matteo Salvini, der sich ja hinter seiner Immunität versteckt, haben unsere Partnerinnen von Mediterranea keinen Grund, ihr Verhalten zu hinterfragen – Menschen zu retten ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine völkerrechtliche Pflicht.

Was wir gerade erleben, ist an Zynismus nicht zu überbieten: Immer wieder werden wir dazu gezwungen, Tage und manchmal sogar Wochen mit dutzenden Geretteten auf See auszuharren, weil uns die europäischen Staaten das Anlegen in ihren Häfen verwehren. Dann werden unsere Schiffe davon abgehalten, auf dem Mittelmeer Rettungsmissionen zu fahren – mit dem Argument, dass unsere Schiffe nicht dafür geeignet sind, Menschen so lange an Bord zu beherbergen. Auch unser Schiff, die Sea-Watch 3, wird  seit Wochen von unserem  Flaggenstaat, den Niederlanden, unter dem Vorwand von „Sicherheitsbedenken“ festgehalten. Das ist nicht nur unbegründet, sondern auch unerträglich zynisch: Die Alternative ist nämlich, dass in der Zwischenzeit jene Menschen ertrinken, um deren Sicherheit „Sorge“ vorgeheuchelt wird.

Die Freiheitsliebe: Von Seiten Frontex aber auch der italienischen Regierung wird euch und anderen Crews vorgeworfen Schlepper zu unterstützen, was hat es damit auf sich?

Franziska:  Schleppern ist es egal, ob zivile Seenotrettungsorganisationen auf dem Mittelmeer aktiv sind – sie profitieren von der akuten Notsituation der Menschen, unabhängig davon, ob diese auf hoher See gerettet werden oder nicht. Sie nutzen das Elend und die untragbaren Lebensbedingungen von Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Armut fliehen und keine andere Wahl haben, als sich mittels Schlepper auf die gefährliche Überfahrt aufzumachen. Dass unsere Präsenz im Mittelmeer keinen Einfluss auf die Schleppertätigkeiten hat, zeigt ein Blick auf die Statistik: Als im Juni 2018 besonders viele NGO-Schiffe von verschiedenen europäischen Behörden blockiert wurden, hat die Zahl der Überfahrten keineswegs abgenommen. Dafür sind die Todeszahlen massiv angestiegen: Sind im Mai laut IMO (Internationale Organisation für Migration) 48 Menschen auf dem Mittelmeer zu Tode gekommen, waren es im Juni mindestens 629.

Weniger Seenotrettungsschiffe auf dem Mittelmeer bedeuten also nicht, dass sich weniger Menschen auf die gefährliche Überfahrt einlassen – es bedeutete lediglich, dass mehr Menschen bei dieser Überfahrt sterben. Das Geschäft der Schlepper boomt nicht wegen ziviler Seenotrettung, sondern weil Menschen in untragbaren Lebensbedingungen keine legalen und sicheren Möglichkeiten zur Flucht haben.

Die Freiheitsliebe: Inwiefern behindern diese Vorwürfe und die zunehmende Kriminalisierung eure Arbeit?

Franziska:  Da unsere Arbeit der Anti-Einwanderungspolitik der Europäischen Union diametral entgegensteht und wir außerdem die Menschenrechtsverstöße der von der EU beauftragten libyschen Milizen öffentlich machen, betreiben die EU-Staaten größte Anstrengungen, um uns mit allen Mitteln an unserem Tun zu hindern. Diese Anstrengungen reichen von Diffamierung über Blockaden bis hin zu Kriminalisierungsversuchen gegen einzelne Crew-Mitglieder. Das hat klarerweise Auswirkungen, mittlerweile sind fast keine zivilen Seenotrettungsschiffe mehr im Mittelmeer aktiv. Die Vereinten Nationen haben Anfang des Jahres festgestellt, dass die Kriminalisierung der Seenotrettung Grund für die Rekordtodesrate im Mittelmeer ist. Trotzdem werden unsere Schiffe weiterhin in den Häfen festgehalten oder einzelne Aktivistinnen und Aktivisten vor Gericht gezerrt, so wie unsere Kapitänin Pia Klemp. Pia drohen 20 Jahre Haft, der offizielle Straftatbestand lautet „Beihilfe zur illegalen Einreise“.  Dabei hat sie nichts anderes gemacht als sich an geltendes Recht zu halten: Jede Kapitänin ist dazu verpflichtet, Menschen vor dem Ertrinken zu retten.

Es ist ein Armutszeugnis für die Europäische Staatengemeinschaft, wenn grundlegendes moralisches Verhalten in Frage gestellt wird und es mittlerweile Zivilcourage braucht, um sich an geltendes Recht zu halten. Eine weitere praktische Auswirkung, die wir seit einiger Zeit beobachten können, ist, dass immer öfter Handelsschiffe bei Booten in Seenot wegschauen, weil die Kapitäne Angst vor Problemen haben.

Die Freiheitsliebe: Welche Möglichkeiten gibt es um dieser Politik der Kriminalisierung entgegenzuwirken?

Franziska:  Weitermachen, Solidarität zeigen, Druck aufbauen. Prinzipiell haben wir überhaupt nichts zu verstecken – im Gegensatz zu den Handlangern der EU-Innenministerinnen haben wir uns immer an den gesunden Menschenverstand und geltendes Recht gehalten. Unser Handeln, aber vor allem auch das von Akteure wie der sogenannten Libyschen Küstenwache, genau zu monitoren und zu dokumentieren ist daher ganz zentral.

Wichtig ist, dass wir uns – auch wenn Menschen angeklagt und mit langwierigen und kostenintensiven Verfahren konfrontiert sind – nicht einschüchtern lassen. Auf dem Spiel steht nicht weniger, als dass Menschenrechte für alle gelten. Zur Zeit sind diese an Europas Außengrenzen außer Kraft gesetzt. Zum Glück hatten und haben wir hunderte couragierte Seenotretterinnen und Seenotrettern, die – sobald sie konnten – immer wieder aufs Meer gefahren sind und unsere Mission fortgeführt haben und hunderttausende Unterstützerinnen und Unterstützer auf den Straßen Europas, die die aktuelle EU-Politik so nicht hinnehmen.

Die Freiheitsliebe: Wie können euch Menschen unterstützen?

Franziska: Auf viele Arten! Da wir uns gänzlich aus Spenden finanzieren, ist eine einmalige oder im besten Fall regelmäßige Spende eine der besten Wege, wie du uns unterstützen kannst (https://sea-watch.org/spenden/). Abgesehen von finanziellem Support, ist es wichtig, dass jede und jeder Einzelne so viel Druck wie möglich auf die Politik aufbaut. Je mehr Menschen sich für die Arbeit der zivilen Seenotretterinnen und Seenotretter und für legale und sichere Fluchtwege einsetzen, desto eher können wir die tödliche Migrationspolitik der EU in die Geschichtsbücher verbannen. Organisiert euch in bestehenden Netzwerken wie der Seebrücke (https://seebruecke.org/), engagiert euch freiwillig bei uns oder bewerbt euch für die Crews auf unserem Schiff oder unserem Flugzeug (schaut auf unserer Website vorbei: https://sea-watch.org/mitmachen ). Kontaktiert eure lokalen Politikerinnen und Politiker und drängt sie dazu, sich für das Thema einzusetzen. Zusammen können wir viel bewegen, wir bauen auf eure Solidarität!

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.


Erstveröffentlichung in „Die Freiheitsliebe“ vor wenigen Tagen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers und des Autors. Bilder und Bildunterschriften wurden teilweise von der Redaktion American Rebel hinzugefügt.
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