Ulrike Eifler

Die Welt in Flammen – Migration und Klasse

Ulrike Eifler

272 Millionen Menschen waren 2019 weltweit auf der Flucht, mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Sie flohen vor Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Natur- und Klimakata- strophen, Armut, Gewalt oder Umweltver- schmutzungen. Nach vorläufigen Schätzungen der OECD hat sich diese Zahl in den ersten sechs Monaten 2020 aufgrund von coronabedingten Grenzschließungen, Reisebeschränkungen und ausgesetzten Flugverbindungen halbiert.

Doch die Fluchtursachen sind damit nicht verschwunden. Im Gegenteil: Die soziale Ungleichheit hat sich mit der Pandemie weltweit verschärft. Wir müssen diese riesigen und verzweifelten Migrationsbewegungen als Ausdruck einer multidimensionalen Krise des Kapitalismus betrachten, die auf der Ebene wachsender sozialer Ungleichheit, autoritärer Politik und des drohenden Klimakollaps stattfindet. Ihre Ursachen und Folgen müssen in den Kontext kapitalistischer Klassenbeziehungen gestellt werden.

Flüchtlingscamp in Moria: Kälte, Nässe und untragbare hygienische Zustände. Bild: YouTube

Migration und Flucht

Migration und Flucht sind nicht dasselbe. Vielmehr ist Migration ein Oberbegriff, den man entlang verschiedener Aspekte differenzieren kann. Wenn Menschen ihren Lebensmittelpunkt innerhalb eines Landes wechseln, spricht man von Binnenmigration. Tun sie dies über Staatsgrenzen hinweg, ist das internationale oder grenzüberschreitende Migration. Es gibt zeitlich begrenzte und es gibt dauerhafte Migration. Außerdem unterscheidet man zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration. Die Grenzen dazwischen sind nicht immer trennscharf: Doch Arbeitsmigration, Binnenmigration oder familiär bedingte Migration sind in der Regel freiwillig. Unfreiwillig dagegen wird sie aufgrund von Flucht und Vertreibung. Jeder Geflüchtete ist also ein Migrant, aber nicht jeder Migrant ein Geflüchteter.

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Die exorbitante Zahl Geflüchteter dokumentiert, wie sehr sich die Lebensbedingungen einer Vielzahl von Menschen verändert haben. Die konservative Neue Zürcher Zeitung veröffentlichte zu Beginn des Jahres 2020 einen Artikel mit dem Titel Warum die Welt 2019 in Flammen stand!“ und identifizierte darin eine weltweite Ungleichverteilung und einen Vertrauensverlust in die politischen Eliten: „Eine Wohlstandsverteilung, die viele als ungerecht empfinden. Die Perspektivlosigkeit vieler junger Leute, deren Bildungsabschlüsse sich nicht in Wohlstand und Prestige umsetzen lassen. Oder aber die Angst vor dem sozialen Abstieg… Die Frustration unterspült die Fundamente der politischen Systeme. Die Legitimität der Herrschenden bröckelt, in Demokratien wie in Diktaturen.“

Die NZZ beschreibt damit die politischen und sozioökonomischen Auswirkungen einer globalisierten Welt, in der sich international agierende Unternehmen Zugang zu Ressourcen und Standortbedingungen verschaffen und dafür die Verfestigung undemokratischer, korrupter Strukturen bis hin zu autoritärer Politik, aber auch wachsende soziale Ungleichheit, Kriege und den Klimakollaps in Kauf nehmen. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Entwicklungen liegt in ihrer klassenpolitischen Einordnung. Während die Globalisierung für die Unternehmen Freiheit im Warenverkehr und ungehinderten Zugang zu Märkten bedeutet, schaffte sie für einen großen Teil der arbeitenden Bevölkerung – insbesondere in den Ländern des Globalen Südens – Arbeits- und Lebensbedingungen, die diese zu Migration zwingen..
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Globalisierung von oben: Freiheit für Unternehmer

Im Kapitalismus sind nicht nur Menschen, sondern auch Waren, Kapital und Arbeitskräfte in Bewegung. Bereits Marx und Engels schrieben im Kommunistischen Manifest: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen“. (Karl Marx/Friedrich Engels: Das Kommunistische Manifest, )

Heute drückt sich diese Tendenz in weltumspannenden Kapital- und Wirtschaftsströmen, im Agieren transnationaler Konzerne, in globalen Lieferketten und in einem kontinuierlich wachsenden Handelsvolumen aus. 2018 wurden weltweit Güter im Wert von rund 19,5 Billionen US-Dollar exportiert. Der internationale Kapitalverkehr expandiert seit Mitte der 1980er Jahre doppelt so schnell wie der Warenhandel und fast viermal stärker als die Weltproduktion. Offene Grenzen spielen eine zentrale Rolle bei der Suche nach neuen Anlage-, Produktions- und Absatzmöglichkeiten. Im Zentrum stehen die Freiheit für Investitionen, Handel und Kapitalflüsse und die freie Entscheidung, Produktion und Kapital in andere Länder zu bewegen. Oder wie der schwedische Manager Percy Barnevik es formulierte: „Globalisierung (…) ist die Freiheit für meine Gruppe von Unternehmen zu investieren, wann sie wollen, was sie wollen; und zu produzieren, wann und wo sie wollen; und zu kaufen, wann und wo sie wollen, mit dem wenigsten Druck von Arbeitnehmerseite“. (Globalisierung oder Gerechtigkeit. Politische Gestaltung und soziale Grundwerte, VSA, S.48)

Dies ist der erste von drei Teilen zu Thema Migration von Ulrike Eifler, der nächste beschäftigt sich mit Globalisierung von unten.

Erstveröffentlichung am 7. Januar 2021 auf »Die Freiheitsliebe«. Veröffentlichung mit freundlicher genehmigung des Herausgebers. Bilder und Bilduntertexte wurden ollständig oder zum Teil von der Redaktion Roter Morgen hinzugefügt.
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