Volkskorrespondentin Kiki Rebell – 6. Dezember 2021

Wir brauchen ein Narrativ

Kaltenstein“, ein fiktives pfälzisches Dorf im Jahre 1951, ist der Schauplatz des aktuellen Sechsteilers der ARD, „Ein Hauch von Amerika“. Siegfried, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft verschollene Sohn des Bürgermeisters, kehrt schwer traumatisiert in sein Heimatdorf zurück und will die alte Ordnung wieder herstellen. Seine Verlobte Marie verspricht ihm die Treue, während Schwester Erika die neuen Grenzen ausreizt, denn Kaltenstein hat sich verändert – eine Truppe der amerikanischen Besatzer hat sich im Ort niedergelassen, baut seine Kaserne aus und beabsichtigt dort, ein Lazarett zu errichten.

Das Dorf entwickelt sich zum Unverständnis der meisten Bewohner/innen in einen US-Garnisonsstandort, mit dem sich zwangsweise jeder in irgendeiner Form arrangieren muss. Der düstere Stadtname Kaltenstein ist Programm und die Handlungsmotive sind klar verteilt. Deutsche sind rückständig, Amerikaner modern!
Im Mittelpunkt der Handlungen steht die Beziehung von Marie Kastner und dem GI George Washington. George ist schwarz und in der Army quälen und mobben ihn weiße rassistische Rekruten und Vorgesetzte. Sie benutzen N-Wörter und erregen sich an sexuellen Stereotypen.
Gerade in dem Moment, als sich zwischen Marie und George eine Beziehung entwickelt, kehrt Maries totgeglaubter Verlobter Siegfried nach siebenjähriger Kriegsgefangenschaft aus der Sowjetunion zurück. Marie ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Sandkastenliebe, die als gebrochener Mann zurückgekommen ist, und den Gefühlen, die sie für George empfindet.

Marie Kastner (Elisa Schlott) und der GI George Washington (Reomy D. Mpeho) führen gegen alle Schranken eine heimliche Beziehung. Bild: YouTube

Doch es geht voran, das Wirtschaftswunder „leuchtet am Horizont“. Viele ziehen trotz Vorurteile ihre Vorteile aus der angespannten Lage. Der Bürgermeister verscherbelt ein Gemeindegrundstück zum Bau des US-Militär-Krankenhauses und wird Generalunternehmer, Marie nimt eine Stelle als Haushaltshilfe beim kommandierenden Colonel McCoy (Philipp Brenninkmeyer) an, ihr Bruder verscherbelt Kitsch und Brandbilder an die GIs. Der neue Gastwirt Schwiete (Samuel Finzi) importiert die erste Wurlitzer-Musikbox, forscht insgeheim zur Deportation eines jüdischen Verwandten und engagiert einen Hitler-Imitator (Godehard Giese) zur Unterhaltung.
Schlechter getroffen hat es die Bauernfamilie Kastner, die zwischen rohen Holzmöbeln in schmutziger Kleidung und ohne Elektrizität ihr hinterwäldlerisches Dasein fristet. Der ruppige Vater Heinrich (Aljoscha Stadelmann), die sanfte Mutter Luise (Winnie Böwe), der versehrte, erst siebzehnjährige Vinzenz (Paul Sundheim) und Erikas beste Freundin, die Marie (Elisa Schlott), werden enteignet.

Schon im Vorspann werden die Zuschauer/innen mit den Sätzen: „Diese historische Miniserie enthält rassistische Sprache und andere Formen von Diskriminierung, welche die Lebenswirklichkeit zu Beginn der 50er-Jahre widerspiegeln und heute immer noch existiert“ auf die zu erwartende verbale und körperliche Gewalt unter den Protagonisten hingewiesen. Wer nun aber glaubt das der Sechsteiler konsequent über Vorurteile, Rassismus und Emanzipation aufklärt wird enttäuscht. Für historische Mentalitäten nach der Nazizeit interessiert sich „Ein Hauch von Amerika“ allerdings nachrangig. Kurze Aneinanderreihungen von Ereignissen die uns eigentlich auf die Palme bringen sollten, werden dann nicht weiter beleuchtet und deren Bedeutung nicht in die eh schon geringen Geschichtskenntnisse des deutschen Durchschnittsbürgers eingefügt.
Anscheinend spielte die Vermarktungfähigkeit der Serie eine übergeordnete Rolle. Auf geistigen Tiefgang, Humor, Wortwitz, dramaturgische Überraschungen und eine halbwegs originelle Kameraführung glaubte man anscheinend wohl auch verzichten zu können.

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Diese Feststellungen bewegte den Mitarbeiter der Süddeutschen, Willi Winkler(1) statt einer Kritik: Ein fiktives Protokoll aus der Drehbuchwerkstatt von „Ein Hauch von Amerika“ zu verfassen. Das liest sich denn so:

Die Süddeutsche Zeitung ist an ein brisantes Dokument gelangt. Es handelt sich um ein Tonbandprotokoll aus dem Writers Room der ARD. Versammelt waren dort die Drehbuchautoren Johannes Rotter, Jo Baier, Christoph Mathieu und Ben von Rönne. Sie hatten die Vorgabe, eine sechsteilige, netflixfähige und möglichst weltweit verkäufliche Serie zu schreiben, die von der Last der deutschen Geschichte handelt und dabei den Unterhaltungsfaktor nicht vernachlässigt. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes sind die Namen des jeweiligen Sprechers als A, B, C und D anonymisiert; die Verantwortung für „Ein Hauch von Amerika“ tragen sie aber gemeinsam.
B: Wir brauchen ein Narrativ.
A: Luther vor dem Kaiser auf dem Reichstag?
B: Ist durch.
C: Die Geschwister Scholl, die Flugblätter im Lichthof der Universität, die Guillotine.
B: Gibt’s mehrfach.
D: Fünfzigerjahre: Wirtschaftswunder, Ost gegen West, aber mit Petticoat und Rock ’n‘ Roll. Eine Tanzschule?
B: Gibt’s schon, „Ku’damm 56“. Aber deutsche Geschichte wäre wichtig, aus der Sicht der Menschen erzählt.
A: Eine Dorfchronik, vom Pferdefuhrwerk bis zum ersten Italienurlaub im Käfer.
B: Hatten wir. „Heimat“ von Edgar Reitz.
A: War schwarz-weiß und viel zu lang. Wie wär’s mit: Zwei deutsche Familien auf der einen Seite und auf der anderen die Amerikaner. Aber diesmal nicht die Befreiung 1945 mit gebügelten Uniformen, Hershey-Schokolade und Kaugummi, sondern ein paar Jahre später. In der Kaserne also schwarze und weiße Soldaten getrennt. Da holen wir die Leute beim Rassismus ab.
D: Die Deutschen sind noch bessere Rassisten und vermieten keine Zimmer an Neger. So wird ein Schuh draus!

A: Kann man das heute noch sagen – Neger?
D: Müssen wir sogar, wir haben einen pädagogischen Auftrag. Die haben damals so geredet, immer wieder das N-Wort, ganz schlimm.
B: Dann schreiben wir in den Vorspann, äääh: „Diese historische Miniserie enthält rassistische Sprache und andere Formen von Diskriminierung, welche die Lebenswirklichkeit zu Beginn der 1950er Jahre widerspiegeln …“
C: Lebenswirklichkeit ist gut, dafür gibt’s Sonderhonorar, aber nur mit dem Zusatz „… und heute immer noch existieren“. Das ist doch genau der Gegenwartsbezug, den die Redakteure verlangt haben.
A: Ich dachte, es geht ums Narrativ?
B: „Narrativ ja, aber mit Flow.“ Hat die federführende Redakteurin ausdrücklich gesagt. Die Zuschauer haben ein Recht drauf, was zu sehen, was sie schon tausendmal gesehen haben!
D: Also?
B: Also: Zwei Welten, Deutsche und Amerikaner, Sieger und Besiegte, Konflikte, Korruption, Affären, die Schatten der Vergangenheit. Mit den Amis in der Pfalz ist für jeden was dabei: Goldene Fünfziger, Jazz, Nylons, die abenteuerlustigen Mädchen, die Amerikaner mit ihrem Geld, mit ihrer Musik. Da draußen ist eine neue Welt.
C: Merk dir den Satz, den brauchen wir.
D: Liebesgeschichte?
B: Das auch, aber besser. Wir kontrastieren die beiden Familien: Die eine ist arm, aber ehrlich. Kartoffelbauern, nur eine Kuh im Stall.
D: Nur eine?
B: Nur eine Kuh! Dazu: Wasser vom Brunnen, Außentoilette, Petroleumlampen. Das gibt schöne Chiaroscuro-Szenen, ich sag nur Kubrick.
D: Die andere wohnt in einem großen Haus, der Mann ist Bürgermeister, die Frau überfordert, die Tochter leichtlebig, ihre beste Freundin ist die Tochter vom armen Bauern. Der Sohn wird vermisst, aber …
B: … er kommt überraschend zurück. Traumatisierter Russlandheimkehrer.
A: Ich hab den perfekten Satz für ihn: „Ich glaube, du musst erst mal ankommen.“
B: Okay, den sagt gleich mal seine Verlobte, die sechs Jahre tapfer auf ihn gewartet hat.
C: Und zack, erwischt er sie mit einem Ne… mit einem Schwarzen!
A: Das ist Fassbinder, „Die Ehe der Maria Braun“.
B: Egal, kennt eh keiner mehr.
A: Und wie lernen sie sich kennen? Der Dings … der Schwarze und das deutsche Mädchen?
B: Er fährt mit seinem Panzer aus Versehen in den Acker des Vaters.
A: Symbollek, ick hör dir trapsen!
B: Ich stell mir das sepiagetönt vor, also archaisch, die Frauen klauben Kartoffeln hinterm Pflug, bisschen Blut, bisschen Boden.
C: Der Schwarze ist ein ganz Lieber. Und der Deutsche ein Riesenarschloch. Brutalisiert durch den Krieg. Seine Verlobte muss sich entscheiden zwischen Liebe und Pflicht, zwischen dem Amerikaner und dem Deutschen.
D: Was wir auf jeden Fall brauchen, ist ein Nazi.
B: Der Bürgermeister.
D: Früher Ortsgruppenleiter, aber darüber wird im Ort nicht gesprochen, komplizenhaftes Schweigen.
A: Mein Gott, ich hab’s: Der Nazi ist nicht bloß Bürgermeister, sondern auch der Bauunternehmer, er macht Geschäfte mit dem amerikanischen Oberst, der …
C: … eine frustrierte Frau hat, die trinkt, aber gutwillig ist und …
A: … und das Bauernmädchen neu einkleidet und ihm Nachhilfe in moderner Kunst gibt, Franz Marc, Picasso, das ganze Zeug.
B: Das Mädchen hat so eine Gretlfrisur, noch ganz Adolf-Ziegler-Schule. Bis dahin hat sie ihre Kuh gezeichnet, jetzt soll sie abstrakt werden, aber nicht plemplem. Damit hätten wir die re-education auch drin.
C: Aber das Narrativ, was ist das Narrativ?
B: Die Gretl heißt Marie, und ihre Freundin ist ein geiles Flittchen. Sie angelt sich einen Ami-Soldaten aus der Kaserne.
D: Einen Weißen aber.
C: Sie hofft, dass er sie mit nach Amerika nimmt.
D: Das wird nichts, aber sie wird schwanger und muss es geheim halten.
B: Die Abtreibung geht schief. Böse Sache.
A und C: Mann, gut!
D: Kann ich bitte trotzdem noch Lebenswirklichkeit haben? Was fehlt, ist ein bigotter Pfarrer, die sadistische Klosterschwester, die nette Hure, ein gefolterter Schwarzer und Freundschaftsverrat. So was in der Art.
A: Ich hab eine Idee. (Da er sie offenbar nur seinem Nachbarn ins Ohr flüstert, fehlt diese Passage in der Abschrift.)
B: Ost-Berlin??
A: Aber damit haben wir auch die neuen Länder im Boot. Ein Schleifchen für Haseloff. (kichert)
D: Ihr glaubt aber nicht im Ernst, den Quatsch kauft uns jemand ab?

„Ein Hauch von Amerika“ wurde angekündigt als „Chronik einer Zeitenwende“ und „facettenreiches Sittengemälde“ in einem „konfliktgeladenen Melodram“. Was die Produzenten darunter verstehen, sollte sich jede/r selber anschauen, denn sehenswert ist diese Serie mit ihren Schauspieler/innen, die eindrucksvoll ihr Bestes geben, allemal. Ein leiser Aufschrei gegen Rassismus und Diskriminierung, der erheblich lauter hätte sein können!
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ARD-Serientrailer „Ein Hauch von Amerika“

„Ein Hauch von Amerika“ – die sechs Folgen und eine Dokumentation, könnt ihr noch bis zum 8. März un der ARD-Mediathek sehen. Da die Serie als „Staffel 1“ beworben wird, ist zu erwarten das wir noch mehr von „Amerikas Hauch“, so wie die Produzenten ihn uns verkaufen wollen, hören werden.

Ich freue mich über viele Meinungen, Rezensionen und Kritiken von euch – gleich hier unter diesem Artikel.

KikiRebell
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(1) Willi Winkler, 1957 geboren in Sittenbach (Bayern). Abitur am Humanistischen Gymnasium, anschließend Lagerarbeiter. Studium in München und St. Louis (USA). Redakteur bei der Zeitschrift Merkur, bei der Zeit, beim Spiegel. Hat diverse Bücher übersetzt (John Updike, Saul Bellow, auch Keith Richards) und geschrieben („Alle meine Deutschen“ [1998], „Karl Philipp Moritz“ [2006], „Die Geschichte der RAF“ [2007], „Der Schattenmann“ [2011]). Seit 1998 fester Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung. Ben-Witter-Preis, Otto-Brenner-Preis.
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Anhang der Redaktion:
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ARD Sendetermine
Sa., 04.12. | 20:15 Uhr (Folge 3+4)
Mi., 08.12. | 20:15 Uhr (Folge 5+6)
Mi., 08.12. | 21:45 Uhr (Doku)
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und in der
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ARD-Mediathek
bis zum 8. März 2023
(Doku nur bis 8. Dez. 2921)


Seht auch das ARD-Video:
»
Rassismus in den 1950ern und heute«,
mit Stellungnahmen der Schauspieler/innen.
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Die Realität: 1953 – Ein Andenkenladen für GIs in der Pfalz. Einige Bürger verstanden schnell, wie Marketing funktioniert.
© SWR / Sammlung Museum Goldener Engel

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