Redaktion Roter Morgen – 23. Oktober 2021

Aus der Geschichte lernen und handeln! –
Die Massenerschießungen von Babyn Jar

Wer an den Holocaust denkt, denkt an Vernichtungslager wie Auschwitz. Nach wie vor weniger bekannt ist, dass rund ein Drittel der Holocaust-Opfer nicht in Konzentrationslagern umgebracht, sondern bei Massenerschießungen in Osteuropa getötet wurden. Symbol des sogenannten „Holocaust der Kugel“ ist das Massaker von Babyn Jar in Kiew, das sich in diesen Tagen zum 81. Mal jährt.

Über 33.000 Juden ermordete das Sonderkommando 4a der deutschen Einsatzgruppe C am 29. und 30. September 1941 in der Schlucht Babi Jar bei Kiew. Das Bild zeigt einen Ausschnitt von Babi Jar und Kleidung, die den Ermordeten gehörte.
Foto: Johannes Hähle. Hamburger Institut für Sozialforschung

Weltgeschichtlich gesehen sind 81 Jahre kaum mehr als ein Wimpernschlag. Aber sie scheinen auszureichen, dass viele Menschen die Lehren der deutschen Geschichte vergessen. Die fremdenfeindliche Gewalt in Deutschland nimmt sprunghaft zu. Rund jeder Zehnte wünscht sich einen Führer, der das Land mit starker Hand regiert. Über elf Prozent glauben, dass Juden zu viel Einfluss haben. Rund zwölf Prozent sind der Ansicht, Deutsche seien anderen Völkern von Natur aus überlegen. Ein Drittel hält Deutschland für „überfremdet“. Knapp neun Prozent sind der Ansicht, dass es wertvolles und unwertes Leben gebe und mehr als acht Prozent glauben, dass der Nationalsozialismus auch seine guten Seiten hatte. Diese Zahlen sind schon ein paar Jahre alt, man kann davon ausgehen, das sich alle Angaben nach oben hin vergrößert haben.

Um so wichtiger ist es, dass wir uns immer wieder daran erinnern, wozu Rassismus, Kapitalismus und Faschismus am Ende führen. Unser Volk braucht ein besseres und fundierteres Verständnis der »Geschichte von unten«. Deshalb erinnert RoterMorgen heute an den 29. und 30. September 1941. An diesen beiden Tagen erschossen SS-Männer der Einsatzgruppe C und Ordnungspolizisten in der Schlucht von Babi Jar (zu Deutsch Weiberschlucht) am Stadtrand von Kiew 33.771 (!!!) jüdische Männer, Frauen und Kinder. Die Wehrmacht unterstützte den Massenmord.

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Unter dem Titel »Umkämpfte Erinnerungen« veröffentlichte der Berliner Historiker Jonathan Welker im Vorjahr eine Zusammenfassung der Ereignisse, die wir unseren Leser/innen in Auszügen ans Herz legen wollen. Bitte reicht diesen Artikel weiter und erzählt bei jeder passenden Gelegenheit von diesem Teil der deutschen Geschichte. Nur so können wir dazu beitragen, das sich die Geschichte nicht wiederholt, denn: „Der Schoß ist fruchtbar noch aus dem das kroch!1

Auch nach dem Massaker vom September 1941 wurde in Babi Jar weiter gemordet. Weitere Zehntausende Juden, Kommunisten, Kriegsgefangene, Partisanen oder andere den Deutschen Missliebige wurden in der Schlucht erschossen. Auf dem Bild spricht ein Landser mit zwei Ukrainerinnen, im Hintergrund sind Zwangsarbeiter zu sehen.
Foto: Hamburger Institut für Sozialforschung


Umkämpfte Erinnerung

von Jonathan Welker (Auszüge)

(…) Am 20. September 1941 explodierte eine Bombe in der Zitadelle in Kiew, zahlreiche weitere Explosionen in der Innenstadt folgten. Ziel der Anschläge waren die neu errichteten Stützpunkte der deutschen Truppen, die im Begriff waren, die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik einzunehmen. Dass bei den von der sich zurückziehenden Roten Armee durchgeführten Bombenanschlägen neben zahlreichen Ukrainer/innen auch deutsche Soldaten starben, war den Befehlshabern von Wehrmacht und SS ein willkommener Vorwand. Umgehend veranlassten sie »Vergeltungsmaßnahmen«, deren Kern der bereits geplante Massenmord an den Kiewer Jüdinnen und Juden war.

Was folgte, war das größte Massaker des Zweiten Weltkriegs in Europa. »Ich renne auf den Balkon hinaus und sehe Menschen, die in einer schier endlosen Kolonne vorüberziehen, sie füllen die ganze Straße und die Bürgersteige aus. Es gehen Frauen, Männer, junge Mädchen, Kinder, Greise, ganze Familien. Viele führen ihr Hab und Gut auf Schubkarren mit sich, aber die meisten tragen ihre Sachen auf den Schultern. Sie gehen schweigend, leise. Es ist unheimlich«, erinnert sich die Lehrerin L. Nartova später an das Geschehen am Morgen des 29. September 1941 in der Kiewer Innenstadt. Das aus SS, Gestapo und Polizeieinheiten zusammengesetzte Sonderkommando 4a hatte in den Tagen zuvor die verbliebene jüdische Bevölkerung der Metropole dazu aufgerufen, sich an einem zentralen Treffpunkt einzufinden. Viele glaubten an eine Deportation, doch die Deutschen und ihre ukrainischen Hilfstruppen trieben die Menschen zu einer großen Schlucht am Stadtrand von Kiew − Babyn Jar.
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Bürokratische Präzision

Die »Altweiber-Schlucht«, so die deutsche Übersetzung, war zu diesem Zeitpunkt bereits von hunderten Wehrmachtsoldaten umstellt, eine Flucht nahezu unmöglich. Systematisch begannen die deutschen Truppen mit der Erschießung tausender Menschen. Opernmusik sollte die Schüsse und Schreie übertönen, den Soldaten wurde Schnaps und Essen bereitgestellt, damit sie beim stundenlangen Morden bei Kräften blieben. »Die Juden mussten sich mit dem Gesicht zur Erde an die Muldenwände hinlegen. (…) Gleichzeitig sind diesen Erschießungstrupps von oben her laufend Juden zugeführt worden. Die nachfolgenden Juden mussten sich auf die Leichen der zuvor erschossenen Juden legen. Die Schützen standen jeweils hinter den Juden und haben diese mit Genickschüssen getötet«, sagte der beteiligte SS-Mann Kurt Werner später in den Nürnberger Prozessen aus.

Nach dem zwei Tage andauernden Massaker vermeldete die Einsatzgruppe C in nüchternem Ton und mit bürokratischer Präzision nach Berlin: »In Zusammenarbeit mit dem Gruppenstab und zwei Kommandos des Polizeiregiments Süd hat das Sonderkommando 4a am 29. und 30. September 33771 Juden exekutiert. (…) Von der Wehrmacht wurden die durchgeführten Maßnahmen ebenfalls gutgeheißen.«

Doch auch nach dem 30. September 1941 wurde die Schlucht Babyn Jar als Exekutionsstätte genutzt. Bei weiteren »Aktionen nach Kriegsgebrauch«, so ein üblicher Tarnbegriff für die Massenmorde, wurden tausende Juden und Jüdinnen, Kommunisten/-innen, Sintize und Sinti sowie Romnja und Roma, psychisch kranke Menschen, sowjetische Kriegsgefangene und zahlreiche ukrainische Nationalisten/-innen erschossen. Bis zur Befreiung Kiews fanden so mindestens 65.000 Menschen in Babyn Jar den Tod.

Hinter den abstrakten Zahlen finden sich persönliche Schicksale. Die Namen von zehn der zehntausenden jüdischen Opfer, die in Babyn Jar ermordet wurden, lauten:

Beba Braginski, 34, Ingenieurin – Maia Broide, 48, Hausfrau – Tania Cholupko, 13, Schülerin – Yosef Brozer, 58, Lieferant – Emilia Edelman, 20, Studentin. – Izrail Freidinov, 75, Pensionär – Mikhael Katzovski, 11, Schüler – Yitzkhak Kordysh, 28, Biologe – Rakhil Novak, 27, Arbeiterin – Olga Tzeitlin, 79, Hausfrau…
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Forderung nach einem Denkmal

Im Juli 1943, kurz vor dem Rückzug, versuchten die deutschen Truppen, die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen. Unter der Leitung des SS-Offiziers Paul Blobel zwang ein Sonderkommando KZ-Häftlinge dazu, die Leichen zu exhumieren und zu verbrennen. Doch zumindest Blobel gelang dies nicht: Er wurde in einem Nachfolgeprozess der Nürnberger Prozesse zum Tode verurteilt und 1951 erhängt. Weitere Angehörige des die Morde ausführenden Sonderkommandos 4a wurden 1968 im sogenannten »Callsen-Prozess« zu langjährigen Hafstrafen verurteilt. Zahlreiche Täter blieben jedoch unbehelligt. So wurde kein einziger Soldat oder Offizier der Wehrmacht je angeklagt, und der letzte Prozess gegen ein ehemaliges Mitglied des Sonderkommandos wurde 2020 aus Mangel an Beweisen eingestellt. (…)

Gedenkstätte Babyn Jar. Bild: A. Homonow

Auch das Babyn Jar Holocaust Memorial Center mit dessen Bau zeitnah begonnen werden soll, bleibt Anlass für heftige Auseinandersetzungen. Finanziert wird es zum größten Teil von russischen Oligarchen jüdischer Herkunft, denen beste Beziehungen zu Putin nachgesagt werden. In der Ukraine befürchten deshalb viele eine geschichtspolitische Einflussnahme Moskaus. Eine umfassende Auseinandersetzung der ukrainischen Mehrheitsbevölkerung mit der eigenen, ambivalenten und widersprüchlichen Involvierung in die Shoa steht jedoch ebenso noch aus. Und so bleibt Babyn Jar auch am 80. Jahresstag des deutschen Massenmords ein pluraler und umkämpfter Erinnerungsort.“

1 Zitat aus dem Drama »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« von Bertolt Brecht. Gemeint ist damit das Krieg und Faschismus ein Bestandteil des Kapitalismus sind. Solange die Ursach für Beides, die Diktatur des Kapitals nicht beseitigt ist, wird sie immer wieder geben.
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Erstveröffentlichung des zitierten Teils am 17. August 2021 auf »analyse & kritik«. Bilder und Bilduntertexte wurden ganz oder zum Teil von der Redaktion »RoterMorgen« hinzugefügt.
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Anhang:

Erstveröffentlichung am 20. Oktober 2021 auf »RoterMorgen«. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers.

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