Rui Filipe Gutschmidt

Katalonien wählt Independentistas und Sozialisten – Gewalt auf den Straßen Barcelonas statt Dialog in schweren Zeiten

Rui Filipe Gutschmidt

Die Katalanen haben gewählt und eine Mehrheit der Sitze in der Generalidad gehört den Parteien die für die Unabhängigkeit Kataloniens eintreten. Das ist jedoch nur ein Aspekt des Wahlergebnisses. Das schlechte Abschneiden der Mitterechtsparteien, der Einzug der rechtsextremen VOX und ein Triumpf des linken Lagers, der einen bitteren Beigeschmack beinhaltet, sind Gründe für eine genauere Analyse der Situation in der autonomen Region Katalonien.

Die katalanischen Sozialisten (PSC) erzielten die meisten Stimmen (was sie seit 22 Jahren nicht mehr geschafft haben), erreichen aber dieselben 33 Sitze im Katalanischen Parlament (Generalidad) als die Republikanische Linke Kataloniens (ERC). Ein Sieg auch für die Unabhängigkeitsparteien, die mit den 32 Abgeordneten der Gemeinsam für Katalonien (JC), den 33 der ERC und den 9 Sitzen der CUP auf insgesamt 74 von 135 Sitzen kommen. Die Neofaschisten der VOX zählen auch zu den Gewinnern während die klassischen Mitterechtsparteien fast ganz verschwinden. Die Katalanen zeigen eindeutig, dass sie sich von der Zentralregierung in Madrid nicht länger bevormunden lassen wollen. Doch die Unabhängigkeit durchzusetzen ist ein extrem kompliziertes und auch fragwürdiges Unterfangen, selbst dann, wenn das Ziel tatsächlich eine „Befreiung von der autoritären Bevormundung aus Madrid“ sein soll.

Die rechtsextreme VOX zieht – mit 11 Abgeordneten – zum ersten Mal in das katalanische Parlament ein, während die konservativen Ciudadanos (C’s) einen monumentalen Rückgang verzeichnen (vom Gewinner im Jahr 2017 mit 36 Abgeordneten auf maximal sechs Abgeordnete bei diesen Wahlen). Auch die PP, das spanische Äquivalent zur CDU/CSU, der ÖVP oder einfach gesagt, eine konservative Volkspartei, die sich in ganz Spanien lange in einem latenten Bipartidarismus an der Macht mit den Sozialisten der PSOE abwechselten, fuhren wieder einmal eine schwere Niederlage ein. Nur drei Abgeordnete vertreten die pro-monarchistische Partei, die für die Beibehaltung der bestehenden Verfassung und für die nationale Einheit Spaniens eintritt, in der neuen Sitzverteilung der „Generalidad“ – dem katalanischen Regionalparlament. 

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Partei

Stimmen

% zum

+/-

Abgeordnete

+/-

Partido dos Socialistas da Catalunha 651 027  

23,02 / 100,00

+9,16  

33 / 135

16
Esquerda Republicana da Catalunha 602 658  

21,31 / 100,00

+0,07  

33 / 135

1
Juntos pela Catalunha 567 421  

20,06 / 100,00

Neu  

32 / 135

Neu
Vox 217 371  

7,69 / 100,00

Neu  

11 / 135

Neu
Catalunha em Comum-Podemos 194 111  

6,86 / 100,00

-0,60  

8 / 135

0
Candidatura de Unidade Popular 188 830  

6,68 / 100,00

+2,22  

9 / 135

5
Cidadãos 157 529  

5,57 / 100,00

-9,78  

6 / 135

-30
Partido Popular 108 841  

3,85 / 100,00

-0,29  

3 / 135

-1
Partido Democrata Europeu Catalão 76 967  

2,72 / 100,00

Neu  

0 / 135

Neu
Outros (com menos de 1,00%) 39 448  

1,34 / 100,00

 

0 / 135

Votos Inválidos

64 867  

2,27 / 100,00

1,46

Total

2 869 070  

100,00 / 100,00

 

135 / 135

Eleitorado/Participação

5 623 962  

53,55 / 100,00

25,49

Fonte

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Eleições regionais na Catalunha em 2021

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Zur Vorgeschichte

Die autonome Region Katalonien hat seit der Wiederherstellung der Demokratie in Spanien (1976), eine weitgehende Selbstbestimmung in der Verwaltung und eine eigenständige Regionalregierung, die vom eben gewählten Regionalparlament, der Generalidad, bestimmt wird. Dieses Recht auf Selbstbestimmung wurde in der Verfassung verankert, aber ging vielen nicht weit genug. Die Tatsache, dass in Spanien mehrere Regionen eine eigene kulturelle Identität haben und ebenfalls die Unabhängigkeit anstreben, bestärkt die regionalen Nationalisten gegenseitig.

Mit der Finanzkrise 2011 und den Sparprogrammen der damaligen Zentralregierung der PP, wuchs die Zustimmung für die linksnationalistischen Parteien in Katalonien, eine relativ reiche Region, deren Bewohner die Regierung in Madrid und die Monarchie schon immer als arroganten, bevormundenden und „ihr hart erarbeitetes Geld verschleudernden“ Störfaktor sehen. Die Korruptionsskandale im Königshaus und in der PP, die alten Seilschaften aus Zeiten der Franco-Diktatur und die Straffreiheit für die Verbrecher des Faschismus, die sich nach 1976 einfach als Demokraten inszenierten, schufen den Hintergrund für eine linksnationalistische Bewegung in Katalonien, wie auch in anderen Regionen. Im Baskenland war diese Bewegung besonders radikal und führte zum Terrorismus der ETA, der von Madrid mit entsprechender Härte bekämpft wurde.

Die Katalanen gingen nicht den Weg der masslosen Gewalt. Doch sie provozierten Madrid dennoch 2017 mit einem Referendum, dass vom Obersten Gerichtshof als Verfassungswidrig eingestuft und somit verboten wurde. Eine Mehrheit stimmte für die Unabhängigkeit und die Generalidad erklärte die Unabhängigkeit der Republik Katalonien. Daraufhin reagierte die Justiz des Zentralstaats mit Verhaftungen, Gerichtsverfahren und Urteilen gegen die Urheber des Referendums und der Unabhängigkeitserklärung, wegen Hochverrat, Volksverhetzung und so weiter. Carlos Puigdemont (JC), der damalige Präsident der Generalidad und jetzt EU-Abgeordneter, ging ins Exil nach Brüssel und seine Auslieferung wird von der spanischen Justiz weiter gefordert. In den Augen der belgischen Behörden kommt eine Auslieferung jedoch nicht in Frage, da das Urteil eher als politisch gesehen werden kann. Das EU-Parlament erwegt dennoch die Immunität des Abgeordneten Puigdemont aufzuheben.
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Und was wird jetzt?

Die Verhandlungen nach den Wahlen werden nicht einfach sein, aber die „Independentistas“ (Pro-Unabhängigkeit) haben gute Aussichten auf eine komfortable Mehrheit in der Generalidad. Trotzdem müssen ERC und JC wissen, wie man mit dem immer unvorhersehbaren CUP umgeht (Anti-System-, Anti-Europa- und EU-Bildung, Anti-Kapitalismus und mehr auf radikale Straßenaktionen ausgerichtet).

Die Sozialisten (PSC) gewinnen erheblich an Sitzen und profitieren von einem abgrundtiefen Sturz der Ciudadanos (gemäßigte Mitte-Rechts-Partei), und der katalanischen PP (die nur 3 Abgeordnete bekommt). Aber die größte Überraschung der Nacht (sehr auf Kosten von PP und C) ist die VOX, die rechtsextremen Neofaschisten, die schließlich in das katalanische Parlament einziehen und auf Anhieb 11 Sitze erhalten (das heißt, sie werden vierte politische Kraft).

Die Stimmen der VOX sind das Resultat der steigenden Animosität zwischen Madrid und Barcelona und der, in den Augen der spanischen „Patrioten“ (Nationalisten, Faschisten, Monarchisten) enttäuschenden Politik der traditionellen Rechten (PP, Ciudadanos). In ganz Spanien sind die alten Eliten der Franco-Diktatur inzwischen bereit, sich als Faschisten zu outen. Der rechtsextreme Populismus gewinnt aber auch, wie im Rest der Welt, mit der Verbreitung von Fake-News und abstrusen Verschwörungstheorien neue Wähler hinzu.

Die „Independentistas“ haben es also geschafft, mehr als 50% der abgegebenen Stimmen zu bekommen. Doch ihr Ziel, die Unabhängigkeit zu erreichen, wird dadurch auch nicht leichter. Wenn sie es aber schaffen sich zusammenzuraufen, wozu es wohl auch kommen wird, dann kann man mit neuen Referenden zu einer grösseren Selbstbestimmung oder gar mit einer (erneuten) einseitigen Unabhängigkeitserklärung rechnen.

Von der „Republik Katalonien“ zu träumen mag ja legitim sein, besonders wenn es sich hierbei um ein Projekt handelt, das ein demokratisches, sozial-solidarisches oder sogar sozialistisches Utopia anstrebt, dessen Bürger gemeinsam eine erneuerte Gesellschaftsordnung ohne Korruption, neoliberalen Raubritterkapitalismus und anachronistischen Neofeudalismus erschaffen wollen.

Doch das ist aus vielen Gründen nicht umsetzbar. Abgesehen davon, dass die katalonische Gesellschaft zutiefst gespalten ist, was sich in der Zersplitterung der Parteienlandschaft in der Generalidad wiederspiegelt, ist es wohl kaum der richtige Zeitpunkt für ein solches Mammutprojekt. Die Folgen der Pandemie kann man nur gemeinsam bewältigen. Dabei müssen Katalanen, Basken, Galizier und alle anderen im Königreich Spanien, sich nicht nur unter sich, sondern auch als Teil der Europäischen Union, ganz Europas und schließlich der Weltgemeinschaft, an einem Strang ziehen.

Doch Spaniens Regierung, als Verantwortliche für den zentralen Verwaltungsapparat, und die Justiz des Landes haben sich bisher unwillig gezeigt einen Dialog mit den Independentistas zu führen. Der Gummiknüppel führt aber nur zu noch mehr Gewalt und der angestaute Frust aus Lockdownmaßnahmen und wirtschaftlichem Niedergang, gepaart mit der finanziellen Not, provozieren nur noch mehr Wut gegenüber Madrid. Die Proteste gegen die Verhaftung und das Urteil des Rappers Pablo Hasel sind Ausdruck dieser Wut. Wenn Regierung und Königshaus nicht schnell den Weg der Repression gegen den des Dialogs eintauschen, wird die Gewalt in vielen Regionen Spaniens das Straßenbild beherrschen. Das Gewalt nie etwas positives hervorbringt, sollte den politisch verantwortlichen bewusst sein. Wenn nicht, dann sollte man sie daran erinnern.

 

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