KARL MARX: An allem ist zu zweifeln

Die menschliche Erkenntnis als Widerspiegelung der objektiven Realität ist ein komplizierter und widersprüchlicher dialektischer Prozess der Wechselwirkung sinnlicher und rationaler Abbilder und von geistiger und praktischer Tätigkeit. Das ist unser heutiger Wissensstand. Aber es gab Zeiten, in denen die menschliche Erkenntnistheorie ohne die Kategorie der Wechselwirkung auskommen musste. Es war dies zugleich eine Periode der Einseitigkeit in der Geschichte der Philosophie. Mit Descartes als Begründer der neuzeitlichen Philosophie und des neuzeitlichen Subjektivismus begann diese eine rationale, zugleich antimetaphysische Richtung einzuschlagen. Descartes kapselte sich von der Außenwelt ab, ging in wissenschaftliche Quarantäne und stellte durch seine Methode des radikalen Zweifels sogar die Realexistenz einer objektiven Außenwelt infrage. Am Ausgang unserer Moderne steht ein radikaler Zweifel an allem auch im Sinne einer Reinigung. Bekanntlich lautete das Lebensmotto von Marx, dass an allem zu zweifeln sei.

Alle alten mittelalterlichen Fundamente wurden abgerissen, neue gelegt für ein neues Leben. Der Mensch ist nicht vonseiten Gottes vergattert, nur sein invariantes Geschöpf ohne brüchige Geschlechtsidentität zu sein, er strampelt sich von theologischer Bevormundung frei und mit ihm auch die Wissenschaften, die Philosophie zum Beispiel galt im Mittelalter als Magd der Theologie. Das Signum der Moderne ist die Neugestaltung des eigenen Lebens, Leben bedeutet jetzt für ein neues Leben ein neues Fundament legen zu können. Dies alles ist zu sehen im Zuge der Emanzipation der Bourgeoisie, sich eine Welt nach Ihrem eigenen Bilde zu schaffen, mehr und mehr dazu überzugehen, die Welt nicht länger als ein Komplex fertiger Dinge, sondern als ein Komplex von Prozessen zu deuten. Die Verheißung einer Selbstverwirklichung bleibt aber bürgerlich beschränkt, der Lohnsklave kann dem einzelnen Kapitalisten davonlaufen, nicht aber der Kapitalistenklasse, er am wenigsten kann sich selbst verwirklichen.

Alte Weltgewissheiten stürzten ein. Das denkende Ich wurde nun die bestimmende Schlüsselkategorie noch Kant gab aufgeklärten Menschen vor, dass sie als Nachweis ihrer Horizonterweiterung in der Lage sein müssten, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Trotz sich dynamisierenden Prozessen in der Welt verharrte die bürgerliche Erkenntnistheorie in einer sterilen Laborsituation des Hin und Her zwischen zwei Polen: Erkenntnissubjekt auf der einen Erkenntnisobjekt auf der anderen Seite. Beide konnten nicht zusammenkommen, beide hatten in der geometrisch ausgerichteten, hölzern gewordenen Philosophie keine Selbstbewegung in sich. So strickt war die Trennung zwischen der Welt des Denkens und der Welt der Dinge, dass Descartes die Tiere nichtdenkenden Maschinen zuschlug. Es lag immer diese bipolar-korrespondierende Konstellation vor. Kant war der letzte große Vertreter dieser sterilen Laborphilosophie. Die unaufhebbare Relation zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt verhindert die Erkenntnis, was das Ding an sich ohne Existenz eines Erkenntnissubjekts ist. Wir sehen alles durch den subjektiven Kopf hindurch und stehen ohne Erkenntnis der wirklich objektiven Realität da. Die wirkliche Welt bleibt uns eine fremde. Diese Erkenntnistheorie steckte manövrierunfähig in der Sackgasse des Agnostizismus fest.

Da trat Hegel als objektiver Idealist mit den Worten auf, Kant habe dem Nichtwissen nur ein gutes Gewissen gemacht, und sorgte für eine neue Balance in der Geschichte der Philosophie. Er vertrat entschieden, dass der objektiven Wahrheit nicht ohne gesellschaftlich-historischer Praxis beizukommen war. Für Materialisten versteht sich das von selbst. Alles, was die Cartesianer verbannt hatten, holte Hegel in den Kreis der Erkenntnis zurück. Der Weltgeist, ein Begriff, der bei den subjektiven Rationalisten verpönt war, hatte sich nicht nur an dem einen Pol ‘Erkenntnisobjekt‘ zu bewähren, sondern durch die ganze Weltgeschichte, konkreter formuliert: Durch den ganzen Prozess der Weltgeschichte hindurch.  Durch ihre Epochen musste nun subjektive Erkenntnis hindurch, um jede Meinung abzustreifen und um zur objektiven Erkenntnis reif zu werden. Oft betonte Hegel, eine Meinung ist mein, Philosophie verhandele keine Meinungen.  Der Erkenntnisprozess war so ein Reifeprozess hin zur Objektivität, ein Konzept, das vom Glauben an die Wirkkraft menschlicher Vernunft getragen wurde.

Hegel war also der große Restaurateur der Gegenstandswelt menschlicher Erkenntnis, in der für Descartes nicht der Schwerpunkt lag und die Kant nur als eine Erscheinungswelt abgetan hatte. Dem subjektiv angelegten Denken schwebte als Erkenntnisideal eine Aussagesicherheit analog der Reinheit der Geometrie vor. Hegel wies die mathematische Methode auf Distanz und führte eine idealistische Dialektik, die hier zunächst schlicht als allseitige Entwicklungslehre aufzufassen ist, in den Erkenntnisprozess ein. Das war sicherlich ein Fortschritt an Flexibilität, allerdings mit einem dem Idealismus geschuldeten schweren Wermutstropfen: Die neue Balance führt zu einer Restauration auch der traditionellen Metaphysik, die zu destruieren ein Hauptanliegen der More geometrico gewesen war. Das ist die Crux des objektiven Idealismus, dass er ideologisch als Verteidiger obsoleter Produktionsverhältnisse auftritt, während die neuen Produktivkräfte in Gestalt eines subjektiven Materialismus in Erscheinung treten, und die ganze Kunst revolutionärer Politik besteht dann darin, materialistisch begründete Objektivität im Sinn von Partei, Solidarität und Kollektivität herzustellen.

Die Tendenz zur Notwendigkeit, das Aussagen mit wissenschaftlichem Anspruch einen zutiefst objektiven Gehalt haben müssen, den hat Hegel aus Gründen der rein geistigen Aufhebung von Entfremdung vorangetrieben, und diese Tendenz jenseits des einsamen Philosophen in der Studierstube kulminierte in der Polemik von Marx und Engels in der ‘Heiligen Familie‘ gegen die junghegelianischen kritischen Kritiker, die sich vor allem als Intellektuelle und Philosophen verstanden, mit dem Gehalt, dass es die Volksmassen sind, die die Geschichte voranbringen. Dass die Volksmassen den Kern geschichtlichen Vormarsches bilden, ist eine Erkenntnis, die Wurzeln im Boden des Materialismus hat, da die Idealisten diese Massen nur als Resultat eines Vormarsches des Geistes deuten. Hegel gelangte nicht zu dieser Tiefe, weil er sich als Idealist der Natur und der gesellschaftlichen Wirklichkeit zugewandt hatte. Die Rationalisten gettoisierten sich mathematisch, weil die Sinne die Sonne kleiner widerspiegelten, als sie nach der mathematischen Berechnung sein musste. Diese Einkehr schlug, um in ein Zugehen auf die Massen, mit denen bis zu einem gewissen Grad zu verschmelzen Lenin den Bolschewisten im ‘Linken Radikalismus‘ aufgegeben hat.

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