„Geschichtsvergessenheit“

Vorgestern, am 22. Juni, jährt sich zum 81. Mal der Tag des Überfalls durch die deutsche Wehrmacht auf die junge Sowjetunion. Unter dem Decknamen » Unternehmen Barbarossa« bereitete Hitler und das Oberkommando der Wehrmacht schon ab Juni 1940 diese Militäroperation durch. Sie zielte auf einen rassistischen Vernichtungskrieg zur Zerstörung des sog. „jüdischen Bolschewismus“. Der gesamte europäische Teil der Sowjetunion sollte erobert, ihre politischen und militärischen Führungskräfte ermordet und große Teile der Zivilbevölkerung dezimiert und entrechtet werden. Neue Arbeitssklaven, Produktionsstätten, Ländereien und damit Maximalprofite winkten dem deutschen Kapital.
Aber was schert es den bürgerlichen Journalisten, -Geschichtsschreibern und den Vertretern des Kapitals in den Parlamenten?

Es gibt ein einfaches “Rezept“ zu bestimmten Jahrestagen einen Zeitungs- bzw. einen Zeitschriftenartikel zu verfassen, uns auf die Bedeutung des jeweiligen geschichtlichen Ereignisses hin zu weisen. So lohnte es sich auch in diesem Jahr wieder einmal, das gesamte Fernsehprogramm nach der Berichterstattung über den höchsten Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse, dem 1. Mai, zu durchforsten, um festzustellen, dass es keine einzige Sendung zum Thema dieses Tages oder zur Arbeiterbewegung ganz allgemein gab. 2021 wurde wenigstens noch eine fünfminütige Rede des DGB-Vorsitzenden von der ARD-Tagesschau gesendet, aber selbst diese fiel in diesem Jahr aus.

Propagandaplakat antisemitischer Gegenrevolutionäre der sogenannten Weißen Bewegung aus dem Jahr 1919: Leo Trotzki, Gründer und Oberbefehlshaber der Roten Armee als roter Teufel auf der Kreml-Mauer; unten sind chinesische Rotarmisten bei der Durchführung von Massenerschießungen dargestellt. Die Bildüberschrift lautet: „Friede und Freiheit im Sowjetland“.

Der sich nun wieder jährende Angriff auf die sozialistische Sowjetunion fand auf den Tag genau 129 Jahre nach dem Einmarsch napoleonischer Truppen, 1812 in Russland statt. Die Frontlinie verlief über 1.600 km von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Und es gibt noch eine weitere eigentümliche Wiederholung der Geschichte: Heute ist es der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 24. Mai 2022 meinte, mitteilen zu müssen, die NATO habe Battlegroups (NATO-Kampfverbände) an der östlichen Flanke des Bündnisses von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer stationiert.

Dieses kolossal wichtige Jahrhundertdatum wurde im Fernsehen selbst in den Nachrichtensendungen der ARD und dem ZDF mit keiner Silbe erwähnt. Der 22. Juni 1941, das wahrscheinlich das grausamste Datum der gesamten Weltgeschichte – es gehört schon eine enorme Dreistigkeit dazu, es zu übergehen, denn es gehört ohne Zweifel zu den historischen Schlüsseldaten des 20. Jahrhunderts. Ja, in gewisser Weise stellt der Tag das Gegendatum zum 25. Oktober 1917 zum Ausbruch der Oktoberrevolution dar.

1941 aber lag eine ganz andere Situation vor. Stalin hatte vor dem zweiten Weltkrieg davon gesprochen, dass die Sowjetunion im Vergleich mit den westeuropäischen Industrieländern in technischer Hinsicht um 100 Jahre zurückliege, die Sowjetunion müsse das in zehn Jahren aufholen, oder sie werde zermalmt. 1941 stand eine hochgerüstete, für damalige Verhältnisse hypermoderne, massenmobilisierte, vor allem gegen den „jüdisch-bolschewistischen Untermenschen“ ideologisch ausgerichtete und verblendete Millionenarmee an der russischen Grenze, die auf menschliche Reserven (KZ-Sklaven) und industrielle Ressourcen von fast ganz West- und Nordeuropa und im Süden auf Italien zurückgreifen konnte. Das Überleben der 1917 durch das Aufkommen von Räten initiierten, 1922 gegründeten Sowjetunion stand auf dem Spiel.

Der 22. Juni 1941 und der 25. Oktober 1917 hängen, gerade aufgrund ihrer einviertel Jahrhundert auseinanderliegenden Opposition, untereinander zusammen. Und diese polit-militärische Kernkonstellation des 20. Jahrhunderts soll heute völlig ausgeblendet werden, weil die westeuropäische politische Großwetterlage und Sichtweise Russland unbedingt nur noch als Aggressor in Erscheinung treten lassen muss. Russland kann nach dem 24. Februar 2022, dem Überfall auf die Ukraine, kein Opfer einer historischen, von Westeuropa ausgehenden Aggression mehr sein. Eine Opferrolle könnte ein unterstelltes großrussisches Aggressionspotenzial schmälern und die derzeitig ideologisch zurechtgelegte Weltordnung zerbrechlich machen: Das so friedliche Westeuropa und „das dunkle Reich Iwans“. Denn eine Russophobie gibt es in Westeuropa nicht erst seit der Herrschaft Iwans IV.

Nach den Vorstellungen der bürgerlichen Geschichtsschreiber und Journalisten geschieht alles aus Zufall, besonders in den Gesellschaftswissenschaften. Letztendlich sind dann Gedenktage auch überflüssig und die Geschichte ein blinder Taumel.

An eins hatten allerdings die bürgerlichen Kanaillen in diesem Jahr allerliebst gedacht: An den 80. Geburtstag des Zuckerbeatles Paul McCartney. Doch wir gehen indessen stürmischen und rauen Weltkriegszeiten entgegen, in denen der Name Paul McCartney am Allerwenigsten eine Bedeutung haben wird.

Und so müssen wir am Ende zu einem vernichtenden Urteil über die bürgerlichen telegenen Massenmedien kommen: Bloß keine Wissenschaft, bloß keine Zusammenhänge aufzeigen – Kitsch allenthalben. Wir leben heute in der Dekadenzphase des Kapitalismus, der Imperialismus ist bereits sterbender Kapitalismus, was anderes will man erwarten als Schund, Kitsch, Dekadenz, Paul McCartney statt Carl von Clausewitz, Fäulnis, Pornografie und vor allem Massenverdummung auf der ganzen Linie.

(Kritik an der Verdummung durch kommerzionellen Fussball). | Bild: Ironman

Massenverdummung auf der ganzen Linie sind auch die anscheinend schmeichelnden Quizsendungen mit ihren Zufallsgeneratoren und Jokern, ihrem Hin- und Herspringen von einer Thematik zur anderen. Ein wissenschaftliches Weltbild, das einem Weltbild, welches auf dialektische Zusammenhänge und allseitige Verarbeitung neu entstandenen Wissensstoffes gründet, widerspricht. Jede Quizsendung im Fernsehen ist, ohne dass Produzenten und Konsumenten im Fernsehsessel das mitbekommen, immer auch eine kleine Wannseekonferenz, auf der die Endlösung der dialektischen Frage auf der Tagesordnung steht. Auch nach hundert Stunden Quizkonsum ist man keinen Schritt weiter bei der nur dialektisch zu beantwortenden Frage, was die Welt als sich bewegende Materie in ihrem Innersten zusammenhält?

Doch was noch die deutsche Klassik umtrieb, das juckt die imperialistische Bourgeoisie heute nicht mehr, statt dessen : Zerfahrenheit, unreife und ungebildete Menschen, Konsumkrüppel, Problemverschleppung, Gier nach dem schnellen Geld, das Hereinfallen auf Augenblicksgötzen, der Verlust einer progressiven welthistorischen Dimension und Kulturmission, vor allem aber sich mehr und mehr steigernde Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Die bürgerlichen Politiker reißen den Volkskörper auseinander, wirbeln seine einzelnen Teile und Gliedmaßen durch die Luft und fügen alles wie gehabt zusammen. Dieses Blendwerk wird uns als Fortschritt verkauft.

Treten wir dem entgegen! Schaffen wir mit unserer praktischen und publizistischen Arbeit Hintergrundwissen und Klassenbewusstsein in den Reihen der fortschrittlichen Arbeiterschaft und den mit ihnen verbündeten Schichten!

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