Redaktion RoterMorgen – 26. November 2021

Verurteilt die Giftgasangriffe in Südkurdistan!
Ein weltweiter Aufschrei verurteilt die faschistische Türkei, nachdem bekannt wurde, dass Erdoğans Armee seit mehreren Monaten Chemiewaffen gegen die Freiheitskämpfer in den Bergen Südkurdistans einsetzt. Die bürgerliche Presse und die Bundesregierung schweigen zum größten Teil und Merkel erstattete ihrem Kollegen Erdoğan einen Abschiedsbesuch.

Ein Kind wird nach der Giftgasattacke in Khan Sheikhoun behandelt.

Seit einigen Wochen setzt die türkische Armee einen neuartigen chemischen Kampfstoff ein. Er ist deutlich aggressiver als die Bisherigen. Die Explosionswirkung dieser Waffe ist extrem hoch, die in der Atmosphäre freigesetzten Gasmengen entwickeln Zerstörungen in einem großen Schadensradius und vernichten alles Leben.

Jetzt berichteten drei überlebende Guerillakämpfer/innen der türkischen Chemiewaffenangriffe am Girê Sor an der türkisch-irakischen Grenze berichten von ihren Erlebnissen und fordern eine internationale Untersuchung in den Tunnelanlagen. ANF-NEWS veröffentlichte heute als erstes die Berichte:
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AMARGÎ ARHAT BA – ANF-News – 16. November 2021

Überlebende berichten von Chemiewaffenangriff

(…) Weil die Rechnung der türkischen Armee bei der Invasion in Avaşîn nicht aufgeht, hat sie im vergangenen Monat einen neuen Angriff auf die Tunnelsysteme der Guerilla gestartet. Der türkische Staat hat sich mit allen technischen Mitteln am 21. Juni dem Girê Sor direkt an der Grenze zugewandt und setzt seitdem chemisches Gas und Sprengstoff gegen die Guerilla ein. Da keiner der Angriffe zu Ergebnissen geführt hat, ist von der Besatzerarmee Anfang September eine weitere menschenrechtswidrige Methode zur Anwendung gekommen. Bei dem Angriff mit einer neuartigen Chemiebombe sind am 3. September sechs Guerillakämpfer/-iinnen gefallen.

Drei Kämpfer/innen, die seit Beginn der Invasion im Tunnel am Girê Sor Widerstand geleistet haben und lebend entkommen konnten, haben von den türkischen Kriegsverbrechen in dem Gebiet berichtet.

Genossin Mizgîn Dalaho

Mizgîn Dalaho ist Kämpferin der YJA Star und erzählt von dem Geschehen: „Die türkische Besatzungsoperation hat am 23. April am Mamreşo begonnen und ist auf die anderen Gebiete in der Region Avaşîn ausgeweitet worden. Eines dieser Gebiete ist der Girê Sor. Auf diesem Berggipfel hat ein großer Widerstand stattgefunden, an dem auch ich teilgenommen habe. Die türkische Armee führt Krieg mit Methoden, die dem Kriegsrecht widersprechen. Sie hat alles, was verboten ist, gegen uns eingesetzt. Dazu gehören die Sprengsätze, mit denen chemische Gase und Pfeffergas verteilt werden. Dieser Krieg ähnelt keinem anderen Krieg auf der Weg. Viele unserer Freundinnen und Freunde sind durch diese Methoden gefallen. Niemand von uns ist bisher durch eine feindliche Kugel ums Leben gekommen, es hat nirgendwo ein Nahkampf stattgefunden. Ich war selbst im Kriegstunnel. Der Feind ist zu keiner Zeit in den Tunnel eingedrungen. Er hat niemals den Mut gezeigt, von Angesicht zu Angesicht zu kämpfen. Das eingesetzte chemische Gas hatte unterschiedliche Gerüche. Manchmal wurde Pfeffergas eingesetzt, manchmal unterschiedliche chemische Gase. Das zuerst benutzte Gas hatte eine grüne Farbe und hinterließ einen süßlichen Geschmack im Mund. Es roch nach Karamell. Vermutlich wurde ein Gas mit einem guten Geruch eingesetzt, damit wir es einatmen. 

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Das Gas, das zum Tod von Heval Baz Gever [Firat Şahin] geführt hat, roch nach Bleichmitteln [Natriumhypochlorit] und hatte eine Langzeitwirkung. Aus diesem Grund ist Heval Baz erst einen Tag später gefallen. Aus seinem Mund kam einen Tag lang ein gelb-schaumige Flüssigkeit. Zwischendurch wurden auch andere Gase eingesetzt, die meisten hatten eine weißlich-graue Farbe.

Bei der letzten Explosion waren wir zu dritt bei der Wache. Plötzlich kam es zu einer gewaltigen Explosion, die jedoch völlig geräuschlos war. Es entstand ein großer Druck im Tunnel und wir gerieten ins Schwanken. Die Wirkung dieser Explosion war gewaltig wie ein Erdbeben. Keine zwei Minuten später drang grauer Rauch hinein. Armanc und Tekoşîn wollten die Türen kontrollieren und fielen nach wenigen Metern um. Heval Armanc war vier Stunden bewusstlos, Heval Tekoşîn lag mit knallrotem Gesicht auf dem Boden. Ihr Körper lief rot an und sie war kurz vor dem Ersticken. Es war, als ob sie ihren letzten Atemzug tut. Ich habe sofort interveniert und sie ist halbwegs wieder zu sich gekommen. Heval Armanc ist erst nach Stunden wieder aufgewacht. Wir sind später nach oben gegangen, um nach den anderen Freund:innen zu sehen. Sechs Freunde/-innen waren gefallen. Ihre Haut war rot bis lilafarben. Es war eindeutig, dass das Gas zu ihrem Tod geführt hat. Alle hatten Erstickungsanzeichen, ihre Augen waren offen.

Es war eine sehr gewaltige Explosion. Wir hatten beispielsweise mit sehr schwerem Material Barrikaden errichtet. Diese Barrikaden sind durch die Druckwelle eingerissen worden. Chemisches Gas darf im Krieg nicht benutzt werden. Unser Volk darf das nicht hinnehmen. Die Kinder dieses Volkes werden jeden Tag vor aller Augen mit Chemiewaffen getötet. Es hat bereits viele Massaker gegeben, aber dieser Angriff stellt eine neue Situation dar. Der türkische Staat kann diese Tatsache nicht verleugnen. Es können Belege dafür erbracht werden, in den Tunnelanlagen können internationale Untersuchungen durchgeführt werden. Es gibt immer noch chemische Spuren in den Tunneln. Auch die Leichen der Gefallenen können untersucht werden, darüber kann festgestellt werden, welcher chemische Stoff eingesetzt worden ist. Vor allem ist wichtig, dass das Volk es nicht akzeptiert.“

Genosse Armanc Simko

Auch der HPG-Kämpfer Armanc Simko war seit Beginn Teil des Widerstands am Girê Sor. Er berichtet, dass das Gas sich auf das menschliche Nervensystem auswirkt, das Bewusstsein beeinflusst und zum Erstickungstod führt:

„Ich war im Widerstand am Girê Sor gegen die Operation in Avaşîn. Als der Feind in massiver Form die Kriegstunnel angegriffen hat, hat er giftige und chemische Gase benutzt. Das zunächst eingesetzte Gas war in den Sprengsätzen enthalten, gleichzeitig wurden auch andere Mittel genutzt. Damit das Gas eine größere Wirkung bei uns entfaltet, ist nach jedem Gaseinsatz eine Explosion verursacht worden. Manchmal wurde auch ohne Sprengsätze intensiv Gas benutzt. Das zuerst eingesetzte Gas hatte einen süßlichen Geschmack und Geruch. Es wirkte sich auf das Nervensystem aus. Als ich es einatmete, sind meine Arme eingeschlafen, ich war halb bewusstlos. Gleichzeitig beeinflusste es das Bewusstsein. Das Gas, das zum Tod von Heval Baz geführt hat, wurde zusammen mit Sprengsätzen eingesetzt und roch nach Reinigungsmittel. Es wirkte sich auf die Atmung aus. Bei Heval Baz hat es zuerst keine Wirkung gezeigt, das kam erst später. Er konnte nicht atmen, sein Herzschlag war beschleunigt und sein Puls unregelmäßig. Als wir ihn zu retten versuchten und eine Herzmassage machten, kam eine gelbe Flüssigkeit mit Bläschen aus seinem Mund und seiner Nase. Heval Baz ist dort durch die Wirkung des Gases erstickt und gefallen.

An die Auswirkungen des zuletzt eingesetzten Gases, das zum Tod von sechs Freund:innen geführt hat, kann ich mich nicht erinnern. Soweit ich weiß, sind wir nach dem Moment des Einsatzes losgegangen, um die Lage der anderen zu kontrollieren, aber was danach war, fällt mir nicht mehr ein. Jedenfalls war es ein Gas, das sofort gewirkt hat. Wenn du es einatmest, wirst du sofort ohnmächtig und fällst um. Wenn man viel davon einatmet, führt es zum Tod. Es hat zum Tod der sechs Freund:innen im Tunnel geführt. Ich selbst habe nur sehr wenig eingeatmet und war vier Stunden lang nicht bei mir. Ich kann mich erst wieder an den nächsten Tag erinnern, alles davor ist weg. Ich erinnere mich nicht, dass wir den Tunnel verlassen haben. Meiner Ansicht nach wirkt sich das Gas direkt auf das Gehirn und das Nervensystem aus und tötet das Gehirn ab. Deshalb verursacht es einen Gedächtnisverlust. Seitdem sind Wochen vergangen, aber die Wirkung spüre ich noch immer. Ich bin vergesslich und beherrsche meine Körperreflexe immer noch nicht wieder.

Bei der Operation in Avaşîn ist am Mamreşo und am Girê Sor chemisches Gas eingesetzt worden, und jetzt in Werxelê. Die Guerilla leistet trotzdem mit ihren eigenen Mitteln und ihrem Willen Widerstand. Ich rufe internationale Experten dazu auf, hier vor Ort die Tunnel zu untersuchen. Die Wirkung in den Tunneln hält immer noch an. Der türkische Staat begeht Kriegsverbrechen und Verbrechen an der Menschheit. Dazu darf niemand schweigen. Insbesondere unser Volk und die Familien der Gefallenen dürfen nicht schweigen. Die Identität der Gefallenen ist veröffentlicht worden, die Angehörigen müssen nachfragen, was mit den Leichen geschehen ist, und Rechenschaft fordern. Der türkische Staat wird die Leichen nicht herausgeben, weil er nicht will, dass sie untersucht werden und seine Verbrechen ans Tageslicht kommen. Diese Freund:innen sind alle an unserer Seite gefallen. Wie schmerzhaft das auch ist, wir werden es in Stärke verwandeln, den türkischen Staat für seine Verbrechen zur Rechenschaft ziehen und unsere Freunde/-innen rächen.“

Genossin Tekoşîn Devrim

Die YJA-Star-Kämpferin Tekoşîn Devrim berichtet von ihren Erlebnissen: „Der Feind hat am 21. Juni das Gebiet Girê Sor angegriffen. Am dritten Tag der Operation hat er mit dem Einsatz von chemischem Gas begonnen. Dieses Gas hatte eine glänzende grüne Farbe und roch nach Karamell. Nach jedem Gaseinsatz wurde eine Explosion verursacht, damit sich das Gas mit der Druckwelle im gesamten Tunnel ausbreitet. Wir haben in diesem Krieg mit eigenen Augen gesehen, wie feige die türkischen Soldaten sind und wie weit entfernt von jeglicher Kriegsethik und einem Gewissen. Sie haben mit diesen Methoden angegriffen, weil sie den Guerillawiderstand nicht brechen konnten. In den Tunneln wurde insbesondere ein Gas mit grauer Farbe intensiv eingesetzt. Dieses Gas wurde mit Schläuchen durch die von uns zuvor geschlossenen Tore eingeleitet. Eine andere Gassorte roch nach Bleichmitteln. Der Geruch war eklig und sehr wirkungsvoll. Zusätzlich wurde ständig Pfeffergas eingesetzt, damit die Freund:innen drinnen nicht atmen können. In den Tunneln, in denen wir waren, haben die türkischen Soldaten kein einziges Mal einen richtigen Schuss abgegeben.

Bei dem Gaseinsatz, der am 3. September zum Tod der Freunde/-innen geführt hat, waren wir am Wachplatz. Obwohl unsere Tunnel sehr lang sind, haben wir plötzlich eine gewaltige Druckwelle gespürt. Ein Explosionsgeräusch kam nicht, aber es war auf einmal wie ein Erdbeben. Ein paar Minuten später war drinnen alles voller Gas. Dieses Gas war anders als alle Formen, die vorher benutzt worden waren. Die Freunde/-innen hatten immer gesagt: Was auch passiert, dieser Gipfel wird nicht fallen, hier werden wir siegen. Dass der Feind chemische Stoffe eingesetzt war, war das Ergebnis seiner Hilflosigkeit angesichts dieser Entschlossenheit. Er hat begriffen, dass er nicht weiterkommt, und deshalb neue Methoden ausprobiert. Das Gas hatte einen furchtbaren Geruch, der nicht auszuhalten war. Ich bin im Tunnel hingefallen und war kurz davor zu ersticken. Die Freunde/-innen sind gekommen und haben mir Luft gegeben und so bin ich wieder zu mir gekommen.

Die Freunde/-innen verloren das Bewusstsein und fielen hin. Gleichzeitig verursachte dieses Gas einen Gedächtnisverlust. Die sechs Freunde/-innen oben sind direkt gefallen. Das eingesetzte Gas war so effektiv, dass die wachhabenden Freunde/-innen nicht rechtzeitig bei ihnen sein konnten. Die Freunde/-innen sind in den Tunneln und den Mangas gefallen. Ihre Haut war gerötet und es war eindeutig, dass sie erstickt sind. Einige hatten verdrehte Füße. Am Zustand der Leichen war erkennbar, dass ein sehr heftiges Gas benutzt wurde und es sich um einen neuen Angriff handelte. Diese Sprengsätze und Gase sind früher nie erprobt worden, sie wurden an uns getestet. Der türkische Staat greift auf diese Weise jenseits jeder Ethik und jedes Gewissens mit Tausenden Soldaten neun bis zehn Guerillakämpfer/innen in den Kriegstunneln an und greift zu solchen Methoden, weil er ihren Widerstand nicht brechen kann.

Heval Botan Özgür war der Kommandant dieses Widerstands und hat in dieser Zeit immer gesagt: ,Unser Volk steht hinter uns, es wird sich auf jeden Fall als Antwort auf den Widerstand erheben.‘ Unser Volk muss das sehen und auf das Geschehene reagieren. Die Freunde/-innen haben tagelang Widerstand geleistet und sind durch Chemiewaffen gefallen. Unser Volk muss sich unbedingt hinter diesen Widerstand stellen.“

Erstveröffentlichung am 16. Oktober 2021 auf »ANF news«. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers. Bilder und Bilduntertexte wurden ganz oder zum Teil von der Redaktion »RoterMorgen« hinzugefügt.
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