Volkskorrespondentin Kiki Rebell

20 Jahre Zerstörung der gesetzlichen Rente

Kiki Rebell

2001 wurde mit der Abschaffung der Berufsunfähigkeitsrente und der Einführung der neuen Erwerbsminderungsrenten die Axt an die Wurzeln des Sozialstaats gelegt. Auch in Corona-Zeiten sollte man wichtige Ereignisse nicht vergessen. Dazu gehört auch die Erinnerung daran, dass am 1. Januar 2001 – also vor gut 20 Jahren – mit der Inkraftsetzung des „Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit“ die Zerstörung der gesetzlichen Rente begann und damit der Abbau des Sozialstaats in Deutschland beschleunigt wurde.

Nun ist es soweit – nachdem ich seit meinem 18. Lebensjahr wegen meiner chronischen Erkrankung nicht in den sogenannten „Ersten Arbeitsmarkt“ passte und zuerst Arbeislosengeld II und dann „Hilfe zum Lebensunterhalt“ besser bekannt als Sozialhilfe, bekomme, will mich die Stadt Kiel lieber als erwerbsunfähig sehen, womit dann die Deutsche Rentenversicherung für meinen Lebensunterhalt sorgen müsste. Ein Grund für mich, mich mehr mit der sogenannten Erwerbsunfähigkeitsrente zu beschäftigen. Bei der Suche im Netz stieß ich auf eine aktuelle Ausarbeitung des Kieler Mediziners Klaus-Dieter Kolenda, der mir schon als fortschrittlich denkender Mensch bekannt war.

Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Kolenda ist Facharzt für Innere Medizin- Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin-Sozialmedizin und war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Er ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Nikotin-Tabakforschung e.V. (DGNTF) und arbeitet in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit.

Was ich dort las, bringt Erschreckendes zutage, das jedem Betroffenen aber auch nicht Betroffenen bewusst sein sollte.

Kolenda schreibt u. a.:
„Bei meiner Literatur-Recherche zu diesem Thema bin ich auf einen Artikel auf der Seite gewerkschaftsforum.de gestoßen, in dem es heißt:

Von den Nichtbetroffenen kaum bemerkt, ist im Rahmen der damaligen rot-grünen sozialen Kahlschlagpolitik schon seit 20 Jahren die Berufsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung verschwunden und das, obwohl jeder vierte Beschäftigte im Laufe seines Arbeitslebens berufsunfähig wird.
Gewerkschaftsforum.de, 29.01.2021

(…) Es geht um die damals von der rot-grünen Koalition neu eingeführten Erwerbsminderungsrenten. Darüber habe ich 2017 in einer medizinischen Fachzeitschrift einen längeren Artikel veröffentlicht, der auf der Website seniorenaufstand.de ins Netz gestellt worden ist. Der Seniorenaufstand ist ein Arbeitskreis von gewerkschaftlichen Seniorinnen und Senioren aus dem norddeutschen Raum, der sich für eine solidarische Rente und ein grundlegendes Umsteuern in der Rentenpolitik einsetzt.
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Einführung der Erwerbsminderungsrenten mit Enteignung verglichen

Bis Ende 2000 gab es für erwerbsgeminderte Angehörige der Gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und eine Rente wegen Berufsunfähigkeit. Eine Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von zwei Drittel der Vollrente stand denen zu, die ihren erlernten Beruf nicht mehr ausüben konnten, wenn eine Verweisung auf eine andere zumutbare Tätigkeit nicht mehr in Betracht kam.

Mit dem oben schon genannten „Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit“ aus dem Jahre 2001 erfolgte eine großangelegte Enteignung der Versicherten. Die Begriffe Erwerbsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit wurden gestrichen. Weggefallen ist auch der bisherige Berufsschutz. An deren Stelle sind eine Rente wegen teilweiser und/oder vollständiger Erwerbsminderung und eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit getreten.

Altersarmut Symbolbild. Bild: Flckr CC0

Eine teilweise Erwerbsminderung liegt vor, wenn der Antragsteller auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch leichte Arbeiten von drei bis unter sechs Stunden täglich, das heißt halbschichtig, verrichten kann. Da gemäß einem Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1976 der Teilzeit-Arbeitsmarkt als verschlossen angesehen wird, erhalten so beurteilte Antragsteller derzeit in Schleswig-Holstein nicht nur eine halbe, sondern die volle Erwerbsminderungsrente. Das gilt für Bundesländer nicht, in denen der Teilzeit-Arbeitsmarkt nicht verschlossen ist.

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Eine vollständige Erwerbsminderung liegt vor, wenn der Antragssteller auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch leichte Arbeiten weniger als drei Stunden täglich, also in geringfügigem Umfang, verrichten kann.

So gibt es seit 2001 volle Erwerbsminderungsrenten bei verschlossenem bzw. ohne verschlossenem Teilzeit-Arbeitsmarkt.

Unabhängig von diesen in zeitlicher Hinsicht quantitativen Grenzen für die Gewährung von Erwerbsminderungsrenten können aber auch bestimmte qualitative Einschränkungen zur vollen Erwerbsminderungsrente führen, selbst dann, wenn bei Beachtung der Einschränkungen noch ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr täglich vorliegt. (…)
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Höhere Anforderungen bei der Gewährung von Erwerbsminderungsrenten

Im Gegensatz zu den bis Ende 2000 gültigen gesetzlichen Bestimmungen stellen die seit 2001 geltenden neuen Bestimmungen höhere Anforderungen an die erforderliche Minderung des beruflichen Leistungsvermögens für die Gewährung von Erwerbsminderungsrenten.

Die Anforderung an die tägliche Arbeitszeit bei voller Leistungsfähigkeit lag früher bei mindestens acht Stunden täglich und wurde auf sechs Stunden herabgestuft, so dass ein zeitlich eingeschränktes Leistungsvermögen schwieriger von den begutachtenden Ärztinnen und Ärzten zu konstatieren ist.

Die wichtigste Verschlechterung, die die neue Gesetzgebung für die Versicherten mit sich gebracht hat, betrifft diejenigen mit einem erlernten Beruf. Bis dahin konnte ein Versicherter, der in seinem erlernten Beruf nicht mehr leistungsfähig war, eine Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von zwei Drittel der Vollrente erhalten. Eine Berufsunfähigkeit lag dann vor, wenn der Versicherte nicht mehr im Stande war, die erlernte Berufstätigkeit oder eine zumutbare Verweisungstätigkeit auszuführen.

Seit 2001 kann dagegen ein Antragsteller auf jede Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden, wobei ein sozialer Abstieg im Gegensatz zu der früheren Regelung irrelevant ist und in Kauf genommen werden muss.

Wenn zum Beispiel ein Büroangestellter (ab dem Geburtsjahr 1961) in gesundheitlicher Hinsicht so einzuschätzen ist, dass er noch als Verpacker für mindestens sechs Stunden leichte Arbeit in überwiegend sitzender Position verrichten kann, ist er nach den jetzt gültigen Regeln in keiner Weise erwerbsgemindert.

Weiterhin muss im Normalfall vom Rentenversicherungsträger keine konkrete Verweisungstätigkeit mehr benannt werden. Es reicht aus, wenn dargestellt wird, unter welchen Voraussetzungen eine Beschäftigung möglich wäre, z. B. leichte Arbeiten in sitzender Position. Eine konkrete Verweisungstätigkeit muss nur benannt werden, wenn ungewöhnliche Einschränkungen bestehen.

Außerdem wird bei einer positiven Entscheidung im Normalfall nur eine Zeitrente gewährt, die bis zu drei Jahre befristet sein kann. Renten wegen verschlossenem Teilzeit-Arbeitsmarkt sind immer Zeitrenten.
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Durchschnittliche Erwerbsminderungsrente in Höhe der Grundsicherung

Die Höhe Erwerbsminderungsrente hängt wie bei der Altersrente davon ab, welche Rentenansprüche im bisherigen Berufsleben durch die monatlichen Beitragszahlungen erworben wurden. 2017 betrug die volle durchschnittliche Erwerbsminderungsrente netto 716 Euro im Monat. Davon sind ca. 1,8 Millionen Menschen betroffen. Ein Teil der krankheitsbedingten Frührentner erhält jedoch nur eine halbe Erwerbsminderungsrente.

Circa 25 Prozent der Rentenneuzugänge sind derzeit Erwerbsminderungsrenten. Der durchschnittliche Zahlbetrag der rund 160.000 im Jahre 2019 zugegangenen Renten wegen Erwerbsminderung betrug im Westen 802 und im Osten 821 Euro. Diese Beträge liegen im Bereich der Sozialhilfe bzw. der Grundsicherung im Alter, so dass Altersarmut vorprogrammiert ist.

Bei Erwerbsminderungsrenten vor dem 63. Lebensjahr werden seit 2001 Abschläge bis 10,8 Prozent abgezogen, obwohl dadurch keine steuernde Wirkung zu erzielen ist, denn die Betroffenen können sich ja weder Ihre Erkrankung noch den Zeitpunkt aussuchen, an dem diese beginnt.

Negativ auf die Höhe des Zahlbetrags der Erwerbsminderungsrente hat sich darüber hinaus ebenso wie auf die Höhe der Altersrente die Absenkung des Rentenniveaus (2000: 53 Prozent des letzten durchschnittlichen Nettoverdienstes) auf mittlerweile 48 Prozent (2020) ausgewirkt. Bekanntlich ist geplant, das Rentenniveau bis 2030 auf 43 Prozent noch weiter abzusenken.
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Abschaffung der Berufsunfähigkeitsrente als Verfassungsbruch

Die „Rentenreform“ von 2001 mit der Einführung der neuen Erwerbsminderungsrenten anstelle der früheren Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrenten hat zu einem Abbau von sozialen Rechten bei der großen Mehrheit der abhängig Beschäftigten geführt.

So ist in Deutschland davon auszugehen, dass rund 60 Prozent der gesetzlich Rentenversicherten einen Berufsabschluss und rund zwölf Prozent einen Fachhochschul- bzw. Universitätsabschluss besitzen, nur circa zehn Prozent sind ohne abgeschlossene Ausbildung.

Für die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten war deshalb die Einführung der neuen Erwerbsminderungsrenten und die damit verbundene Abschaffung der früheren Berufsunfähigkeitsrente eine groß angelegte Enteignung im Bereich der Daseinsfürsorge und der bis dahin geltenden sozialen Rechte. Das ist aber bis heute in der medialen Öffentlichkeit kein Thema.

Diese Enteignung konnte nur deshalb ohne größere Widerstände von Seiten der Betroffenen durchgesetzt werden, weil die Gesetze unter Leitung eines sozialdemokratischen Ministers (Walter Riester) erarbeitet und von der damaligen rot-grünen Koalition beschlossen wurden. Sie finden bis heute uneingeschränkt Beifall bei den übrigen neoliberalen Parteien wie CDU/CSU und FDP.

Der Versicherungswissenschaftler Hans-Peter Schwintowski hat 2015 in einem Interview auf nachdenkseiten.de die Auffassung vertreten, die Streichung der Absicherung gegen Berufsunfähigkeit sei ein Verfassungsbruch gewesen. Er schlug daher eine Verfassungsbeschwerde vor.

Nach seinem Urteil hat die damalige Regierung beim Zerfleddern der gesetzlichen Rente Verfassungsbruch begangen, denn das Sozialstaatsprinzip, das in Artikel 20 des Grundgesetzes verankert ist, wurde verletzt. Außerdem hat der Staat als Rechtsstaat auch seine – ebenfalls aus Artikel 20 resultierende – Gewährleistungsverantwortung verletzt.

Im Gewerkschaftsforum heißt es dazu:

Wenn der Staat es unterlässt, die Grundabsicherung für den Fall der Berufsunfähigkeit wieder in die gesetzliche Renten- respektive Krankenversicherung zu integrieren, muss schnellstens geprüft werden, ob im Wege einer Verfassungsbeschwerde eines berufsunfähig gewordenen Menschen, der nun keine Sozialleistung bekommt, der Staat zum Handeln verpflichtet werden kann.
Gewerkschaftsforum.de, 29.1.2020

Wenn man das liest, fragt man sich natürlich, warum das nicht schon längst passiert ist.

In einem „Sozialstaat“, wie die Gesellschaft, in der wir leben, auch heute bei uns noch genannt wird, gilt der Grundsatz, dass der Staat für eine hinreichende Grundversorgung im Bereich der Kranken-, Renten-, Berufsunfall- und Pflegeversicherung zu sorgen hat. Zu den Aufgaben der gesetzlichen Rentenversicherung gehört es, das Risiko, berufsunfähig zu werden, abzusichern. Denn die Berufsunfähigkeit bedeutet genau genommen eine langanhaltende, dauerhafte Erkrankung eines Menschen, durch die er seinen Beruf nicht mehr ausüben kann.
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Schussfolgerungen

Seit Jahren wird von den Sozialverbänden und Gewerkschaften eine gesetzliche Neuorientierung und Novellierung bei Erwerbsminderungsrenten vorgeschlagen.

Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass ältere Versicherte, die nur noch leichte Arbeiten sechs Stunden und mehr täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten können, bei denen vielfältige gesundheitliche Einschränkungen bestehen und denen in einer angemessenen Frist kein ihrem Leistungsvermögen entsprechender konkret vorhandener Arbeitsplatz nachgewiesen werden kann, einen erleichterten Zugang zur Erwerbsminderungsrente erhalten sollten.

Außerdem wird die Abschaffung der Rentenabschläge bei Erwerbsminderungsrenten durch z. B. Verlängerung der Zurechnungszeiten, wie das bei Arbeitsunfällen und Kriegsopfern der Fall ist, gefordert.

Eine zentrale Forderung ist auch die Wiedereinführung der Berufsunfähigkeitsrente, wie sie vor 2001 bestanden hat, zumal die Streichung der Absicherung gegen Berufsunfähigkeit nach Auffassung von Wissenschaftlern ein Verfassungsbruch gewesen ist.

Da die niedrige durchschnittliche Zahlbetrag der vollen Erwerbsminderungsrente auch mit der seit 2000 erfolgten Absenkung des Rentenniveaus zusammenhängt, muss diese Absenkung gestoppt und schrittweise rückgängig werden.

Bis dahin sollte auch für Erwerbsgeminderte eine deutlich angehobene Mindestrente in Betracht gezogen werden. Dass diese Vorschläge nicht utopisch sind, zeigen die Verhältnisse in unserem Nachbarland Österreich. Dort liegt das Rentenniveau bei etwa 90 Prozent des durchschnittlichen jährlichen Nettoverdienstes.“

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Mir fällt auf, dass die Zitate aus dem Gewerkschaftsforum allgemein gehalten sind und sich nicht, wie man es von Gewerkschaftern erwartet, anklagend und zum Handeln gegen die als „sozial“ getarnte Gesetzgebung richten. Ich denke, dass es eine große Bewegung gegen diese geplante Verelendung der betroffenen Rentenempfänger/innen geben muss. Auf staatliche Organisationen ist kein Verlass – deshalb müssen wir unsere Geschicke selber in die Hände nehmen. Dazu gibt es viele Möglichkeiten, die mit der Stärkung und Radikalisierung der Solzialverbände beginne kann.

Demonstration gegen Altersarmut. Bild: Flckr CC0

Die von Kolenda aufgestellten Forderungen reichen mir nicht aus. Sie sind auch nur eine kleine Verschönerung des Systems das alte- und erkrankte Menschen nur als Klotz am Bein der Gesellschaft betrachtet. Eine ausreichende Grundrente für jeden Betroffenen, ich denke da an den doppelten Satz der derzeitigen „Hilfe zum Lebensunterhalt“ – also rund 1.700 € für Lebenshaltung und Wohnung. Eine Grundrente muss ohne Prüfung der Ansprüche jedem gezahlt werden, der das Rentenalter erreicht hat oder bedingt oder teilweise erwerbsunfähig ist!
Lasst uns kämpfen, statt uns auf die zu verlassen, für die wir nur ein Kostenfaktor sind!
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Die Hervorhebungen habe ich hinzugefügt. Bilder und Bindunterschriften stammen von der Redaktion RoterMorgen.

 

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