Redaktion RoterMorgen – 12. Oktober 2025
Im gestrigen Beitrag warnten wir vor der Wiederkehr der Agenda 2010 und bezeichneten den angekündigten „Herbst der Reformen“ als Vorboten eines neuen Angriffs auf den Sozialstaat. Dieser Artikel baut darauf auf, schaut jetzt detailliert auf die konkreten Pläne der Bundesregierung und ihre wahrscheinlichen Folgen für Lohnabhängige, Rentner, Erwerbslose und die Jugend. Unsere Schlussfolgerung bleibt skeptisch und nüchtern: Hoffnung kann nur aus organisiertem Widerstand erwachsen.
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Eine Regierungskommission als Vorarbeit
Die Einsätze der Kommission zur Sozialstaatsreform
Die Bundesregierung hat im Spätsommer 2025 eine Kommission zur „Sozialstaatsreform“ eingesetzt, die bis Ende 2025 Vorschläge zur Modernisierung, Entbürokratisierung und Effizienzsteigerung des Sozialstaats vorlegen soll. Die Ministerien betonen dabei Schlagworte wie Bürgerfreundlichkeit und Leistungsfähigkeit. Diese Kommissionsarbeit ist jedoch kein neutrales Expertentreffen. Sie dient der Suche nach Maßnahmen, mit denen der Haushalt saniert und die Kosten des Sozialstaats für Staat und Kapital reduziert werden können.

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Rückkehr zu restriktiven Leistungen
Die Reformpläne für die Grundsicherung
Kernpunkt der Debatte ist die Neugestaltung des Bürgergelds beziehungsweise seine Umwandlung in eine „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ mit schärferen Mitwirkungspflichten und deutlich verschärften Sanktionen. Koalitionskreise und Medien berichten von Kürzungsstufen bis zu 30 Prozent bereits beim ersten Fehltermin und der Möglichkeit totaler Leistungskürzung bei wiederholten Verstößen. Zudem wird diskutiert, Schonvermögen früher anrechenbar zu machen und Wohnkostenschutz enger zu fassen. Die angekündigten Maßnahmen erinnern in Ton und Wirkung an die Hartz-Reformen.
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Haushaltspolitik und Prioritäten
Investieren für Infrastruktur, sparen bei Sozialleistungen
Gleichzeitig propagiert die Bundesregierung hohe Investitionen in Infrastruktur, Klima und Digitalisierung. Der Haushalt 2025 führt offiziell Rekordinvestitionen in Höhe von etwa 115 Milliarden Euro an. Die Kehrseite ist die politische Logik: Investitionen werden mit Sparvorgaben an anderer Stelle gekoppelt. Das bedeutet konkret, dass die Mittel für Infrastruktur gegen Einsparungen bei laufenden Sozialausgaben aufgerechnet werden. Für die Arbeiterklasse heißt das: neue Großprojekte ohne eine Wiederherstellung oder auskömmliche Finanzierung des sozialen Schutzes.

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Arbeitsmarktpolitik in der Praxis
Welche Wirkung die Reformen auf Beschäftigte haben
Die angekündigten Verschärfungen und der Druck zur „Aktivierung“ zielen darauf ab, Erwerbslose schneller in Arbeit zu bringen. In der Realität führt so ein Druck vor allem zu mehr Prekarität. Deutschland hat weiterhin einen relevanten Niedriglohnsektor. Laut Statistischem Bundesamt lag die Niedriglohnquote zuletzt bei rund 16 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse, also bei mehreren Millionen Arbeitsplätzen. Wenn Vermittlungsdruck mit Lockerungen beim Kündigungsschutz und Flexibilisierungsmaßnahmen verbunden wird, droht ein weiterer Ausbau prekärer Jobs und ein Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen.
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Wer trägt die Kosten der „Sanierung“?
Betroffene Gruppen und soziale Folgen
Die geplanten Maßnahmen treffen erwerbslose Menschen, Rentner mit niedrigen Renten, Aufstocker und Familien mit geringen Einkommen am härtesten. Aktuelle Zahlen zeigen, dass etwa 5,4 Millionen Menschen Bürgergeld oder vergleichbare Leistungen beziehen. Eine Verschärfung der Grundsicherung würde diese Bevölkerungsgruppen unter erhöhten Zwang zur Arbeit, unter verschärfte Sanktionen und in größere materielle Unsicherheit bringen. Besonders gefährdet sind chronisch kranke und pflegebedürftige Menschen sowie Alleinerziehende.
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Politikerzitate und Rhetorik
Was Regierungsakteure sagen und was sie meinen
SPD-Politiker Lars Klingbeil verwies öffentlich auf die Agenda 2010 und bezeichnete die damaligen Reformen als „mutig“, um heutige Reformbedarf zu rechtfertigen. Gleichzeitig betonen Regierungsvertreter, man dürfe „die Gräben nicht vertiefen“, also moderate Töne wahren. Die Sprache der Eliten verschleiert damit die Richtung: Reformgipfel und Formulierungen über „Effizienz“ dienen häufig dazu, harte Einschnitte verwaltbar zu machen. Gewerkschaftsvertreter und Sozialverbände warnen dagegen eindringlich vor sozialen Verwerfungen.

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Wirtschaftliche Logik und Klasseninteressen
Warum das Kapital von den Reformen profitiert
Die Treiber dieser Politik sind Unternehmensverbände und Finanzeliten, die niedrigere Lohnkosten, geringere Lohnnebenkosten und flexiblere Arbeitsbeziehungen fordern, um die Profitraten zu stützen. Die Agenda 2010 hatte solche Mechanismen bereits institutionalisiert und zu einem Niedriglohnsegment geführt. Die aktuelle Politik folgt der gleichen Logik: Investitionen in Kapitalprojekte und Steuerentlastungen für Unternehmen sollen mit Sozialkürzungen gegenfinanziert werden. Die Folge ist eine Verschiebung der Lasten von Kapital auf Arbeit.
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Was zu tun ist
Keine Illusionen und der Aufbau praktischer Gegenwehr
Es gibt keine politische Abkürzung durch Verhandlungen mit denselben Kräften, deren Interesse die Profite sind. Wer jetzt auf Nachsicht von oben hofft, wird enttäuscht. Die Arbeit an organisierten Gegenkräften bleibt zentral. Forderungen müssen konkret sein: Erhalt und Ausbau realer Sozialleistungen, Schutz der Schonvermögen, echte Arbeitsplatzsicherung, Erhöhung von Löhnen untere Einkommensbereiche entlasten und eine Steuerpolitik, die Reiche stärker heranzieht. Gewerkschaften, soziale Initiativen und betriebliche Organisierung sind die Instrumente, die tatsächlichen Schutz bringen können. Gleichzeitig muss die Arbeiterklasse ihre Erfahrungen aus dem Widerstand gegen die Agenda 2010 nutzen, um diesmal wirksamer zu handeln.

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Schlussbemerkung
Keine falschen Hoffnungen bewahren,
sondern Widerstand aufbauen
Die Fakten sprechen eine klare Sprache. Die Regierung hat Instrumente und Rhetorik mobilisiert, um einen sozialen Kahlschlag in Teilen durchzusetzen, während sie parallel Investitionen für die Wirtschaft ankündigt. Unsere Auswertung stützt sich auf offiziellen Dokumente, Statistiken und Berichte aus der politischen Debatte. Wer die soziale Lage verbessern will, darf nicht auf eine «gerechte» Reform hoffen, wenn dieselben Klasseninteressen am Werk sind. Orientierung bietet nur: organisieren, mobilisieren und praktisch Widerstand leisten.
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Quellen: Thome, DGB, Arbeit-Zukunft, Spiegel online, Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Statistisches Bundesamt, Bundesagentur für Arbeit
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