F.-B. Habel

Nordisches Skandinavien an der Mauer

Buchbesprechung: Torsten Schulz, Skandinavisches Viertel
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F.-B. Habel

Schon, wer das Vorsatzpapier betrachtet und ein bißchen Ahnung vom „Skandinavischen Viertel“ hat (dem Alteingesessenen als Nordisches bekannt), merkt: Das stimmt was nicht! Ein Stadtplan zeigt das Viertel östlich der einstigen Mauer mit teilweise fremden oder „verrutschten“ Straßennamen. Die Schönhauser Allee wird da beispielsweise zur Schonenschen Straße (während die echte in dem Kartenausschnitt nicht mehr vorkommt). Richtige Straßennamen stehen neben falschen, etwa die Schwedische Straße, die die nach dem Bürgerrechtler Paul Robeson benannte ersetzt. Aber schon nach wenigen Seiten wird klar, dass es sich um das ausgeklügelte Phantasieprodukt eines Teenagers handelt.

Wie in seinen Romanen „Boxhagener Platz“ (2004) und „Nilowsky“ (2013) stellt Torsten Schulz wieder einen heranwachsenden Berliner in den Mittelpunkt. Diesmal verfolgt er diesen Matthias jedoch bis ins Erwachsenenalter und schafft bei allem Realismus die von ihm stets angestrebte poetische Überhöhung.
Zu den wiederkehrenden Motiven in Schulz´ Romanen zählen die typischen Berliner Kneipen. Zum „Feuermelder“ (Boxhagener Platz) und dem „Bahndamm-Eck“ (Nilowsky) gesellen sich nun „Der Goldene Anker“ und der „Weiße Hirsch“ (der sogar bis kurz vor Drucklegung des Romans existierte, ehe er durch ein Café für Lattemacchiatomütter ersetzt wurde).

Ein weiteres typisches Schulz-Symbol für unwiederbringlich Vergangenes ist der Friedhof, der auch hier eine wiederkehrende Rolle spielt, denn es wird im „Skandinavischen Viertel“ viel gestorben. Der erste Todesfall betrifft Matthias´ geheimnisvollen Trinker-Onkel Winfried – unmittelbar nachdem Matthias an ihm einen Verrat beging. Die Erinnerung daran kann er jahrzehntelang nicht abschütteln. Matthias ist Teil eines Geflechts aus Schuld und Verrat, Anziehung und Ablehnung, in dem seine Familie steckt.

Thorsten Schulz, Foto: Darek Gontarski,

Der Autor bleibt zwar seinen Motiven zwar treu, führt aber diesmal seinen Helden aus dem Ost-Berlin der sechziger und siebziger Jahre direkt in unsere Gegenwart. Der Matthias aus einem wenig sozialistischen Elternhaus hat durch seinen Onkel, einen fahrenden Artisten, der schon mal in Finnland war, die Sehnsucht nach Skandinavien übernommen. Da er von Pankow-Süd nur einen kurzen Weg in das „Skandinavische Viertel“ in Prenzlauer Berg-Nord zu nehmen hat, durchstreift er es oft und wundert sich, dass zwischen den nordischen Straßennamen auch solche sind, die nicht dorthin gehören, die Seelower, Schönfließer, Driesener etwa. Ihnen gibt er eigene skandinavische Namen, die jedoch nur in seinem Kopf existieren. Es wird seine Obsession.

Im Frühjahr 1990 beantragt der junge Mann beim Magistrat, seine Namensvorschläge in die Realität zu überführen. „Es war die Zeit der Forderungen und Anträge, mit denen man sich naiverweise Revolution vorgaukelte“, heißt es im Roman.

Als Erwachsener geht Matthias als Glücksritter in fremde Kontinente, und als er zurückkehrt, findet er seine Bestimmung darin, als Makler Wohnungen im „Skandinavischen Viertel“ zu verkaufen. In den parallel verlaufenden Handlungssträngen um den kleinen und den erwachsenen Matthias erzählt Schulz ohne aufgesetzte Politisierung viel über Wandlungen in der Einwohnerschaft, Heimatgefühl und Verdrängung. Da nimmt er Gelegenheit zu hellsichtigen Seitenhieben auf die Zuzügler aus dem Westen, darunter oft junge Leute, die sich hier kraft ihrer Eltern Wohnungen gekauft haben: „Nicht wenige planen weiterzuziehen, sobald sie Familien gegründet haben oder ihre Immobilien spekulationssteuerfrei verkaufen können. Sie behaupten, regelrecht verliebt zu sein in Berlin, und oftmals sind sie es auch, doch irgendwann werden sie in andere Städte verliebt sein oder in ihre Heimat zurückkehren.“

Wer, wie der Rezensent, sein Leben lang in diesem Nordischen Viertel gewohnt hat, wundert sich über kleine Ungenauigkeiten, die zweifellos der literarischen Freiheit geschuldet sind. Matthias, der aus der Pankower Mühlenstraße kommt, kann von dort nicht in die Schönhauser Allee einbiegen, denn hier heißt sie noch Berliner Straße. Und von der in die Stavanger zu kommen war zumindest seinerzeit nicht möglich. Auch schade, dass Matthias bei den vielen Besuchen in der Malmöer nicht ein einziges Mal die Nordenskjöldstraße berührt, Berlins kürzeste Straße. Das Zentrum des titelgebenden Viertels ist zweifellos der Arnimplatz, der den Namen von Bettina und Achim von Arnim erhielt. Warum gab Matthias ausgerechnet ihm als einziger Lokalität keinen nordischen Namen? Lagerlöfplatz hätte sich angeboten, denn die Schwedin Selma Lagerlöf schrieb oft über den drohenden Verlust von Wohnung und Heimat und wurde Nobelpreisträgerin. Da kann Schulz sich noch ins Zeug legen!

Torsten Schulz: Skandinavisches Viertel, Klett-Cotta 2018, 263 S., 20,00 €

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