Gudrun Ensslin – eine “Mörderin“ als große Frau der Weltgeschichte

Gruppe RoterMorgen, nach einer Vorlage von Heinz Ahlreip

Karl Marx bemerkt zu Beginn des ‘Achtzehnten Brumaire‘, seiner Analyse der Klassenkämpfe in Frankreich während der bürgerlichen Revolution von 1848, dass sich Geschichte zweimal ereigne: Als Tragödie und als Farce. Eine Farce ereignete sich in der zweiten Februarhälfte 2022 im Umkreis des Bundespräsidialamtes, das dem 66jährigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier untersteht. Äußerer Anlass war der 80. Geburtstag der am 21. Februar 1942 in Berlin geborenen Schauspielerin und Filmregisseurin Margarethe von Trotta, die in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts auch in der Roten Hilfe und in Komitees gegen Folter politisch aktiv war. In seinem Glückwunschschreiben hob der Bundespräsident hervor, dass es der Regisseurin gelungen sei, neue Sichtweisen auf große Frauen der Weltgeschichte zu eröffnen.

In der Tat kam Margarethe von Trotta in ihrem filmischen Schaffen immer wieder auf Frauenbiografien zurück, auf Rosa Luxemburg, auf Hanna Arendt, auf Hildegard von Bingen und auch auf – Gudrun Ensslin, Tochter eines protestantischen Pfaffen aus der Provinz, die 1965 im Alter von 25 Jahren Willy Brandt beim Wahlkampf unterstützte. Gudrun Ensslin war durch die imperialistische Barbarei der US-Armee in Vietnam und durch den braunen Sumpf in der BRD aus ihrer bisherigen schiefen Bahn geworfen worden und emanzipierte sich zu einer Menschenrechtsaktivistin. Sie wurde ein führendes Mitglied der militanten Baader-Meinhof-Politgruppe.

Ganz offensichtlich hatte Steinmeier in ihrem Fall einen Blackout. Am 4. März 2022 wurde die Ensslin betreffende Passage auf der Webseite des Bundespräsidialamtes gelöscht.  Für einen Augenblick war Steinmeier entfallen, dass die SPD nicht in der Traditionslinie von Thomas Müntzer steht, sondern in der von Martin Luther, aufrührerische Bauern totzuschlagen, wo immer man sie auch antrifft. Ausgerechnet Julian Reichelt, ein ehemaliger Chef-Redakteur der BILD-Zeitung, dem im Oktober 2021 wegen sexistischer Übergriffe gekündigt worden war, hatte auf den Fauxpas aufmerksam gemacht. Steinmeiers Pressesprecherin Anna Engelke räumte den Fehler ein, auf WELT-online vom 4. März 2022 erschien ihre Aussage: Gudrun Ensslin sei eine verurteilte Mörderin1.

Mohr führt weiter aus, dass im Fall Ensslin kein rechtskräftiges Urteil vorliegen kann, in dem sie als Mörderin bezeichnet wird. Sie war ja vor einer Urteilsverkündung in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 in der Festungshaft Stuttgart-Stammheim in den Tod getrieben worden. Die Konfusion steigert sich, als Imke Sommer in ihrer Eigenschaft als Leiterin der Stabsstelle Kommunikation/Presse beim Bundespräsidialamt in einer mail an den Autor Mohr mitteilte, dass dem Bundespräsidenten bekannt sei, dass Frau Ensslin keine rechtskräftig verurteilte Mörderin sei2. Otto Schily, ihr Verteidiger, erklärte 1977 öffentlich, dass jede Verteidigung sinnlos sei in einem Rechtssystem, in dem Strafverteidiger nicht das Leben ihrer Mandanten retten könnten3. Diese Einsicht hinderte den Rechtsanwalt später nicht, die Seite zu wechseln und Bundesinnenminister zu werden. Das ist die vielleicht perverseste Schlangenhäutung im Baader-Meinhof-Komplex: Vom Verteidiger einer Menschenrechtsaktivistin zum Kommandeur einer inländischen Terrororganisation, die im Gesamtkomplex ‘bürgerlicher Staat‘, den Marx als nationales Kriegswerkzeug des Kapitals gegen die Arbeit bestimmt hat! Gegen einen derart perversen Rechtsstaat ist die RAF zu Recht angetreten.

Die RAF ist Geschichte. Ihr Kernfehler lag in einer anarchistischen Ungeduld, nicht die Mehrheitsverhältnisse abzuwarten, aus denen allein sich eine proletarische Revolution entwickeln kann.  Sie wollten, wie die Anhänger Blanquis eine Revolution machen. Die RAF-Aktivisten machten den gleichen Fehler wie die bürgerliche Journaille, die bis heute an ihrer Geschichte herumdoktert, man stützt sich auf das Handbuch des brasilianischen Stadtguerilla von Carlos Marighella, auf militärische Schriften Ches mit seiner Focus Theorie und auf Schriften Giaps mit seinem dreistufigen Modell: Terrorakte, Agitation – Guerillakrieg – Volkskrieg; nicht aber zurückgegangen wird auf Lenins im Ausklang der russischen Revolution von 1905 verfassten Schrift über den Partisanenkrieg aus dem Jahr 1906, diese Revolution mit vielfältigen Anlagen auswertend.  Der Journalist Stefan Aust hat 1977 einen dicken Schinken von 668 Seiten über den Baader-Meinhof-Komplex verfasst, ohne auch nur einmal auf die Schlüsselschrift von Lenin einzugehen. Ob er davon überhaupt weiß? Etwas Ähnliches erleben wir beim Holocaust-Komplex, die Schlüsselschrift des jungen Marx ‘Zur Judenfrage‘ aus dem Jahr 1844 scheint unbekannt zu sein, ist und bleibt aber trotz des Abstandes von 178 Jahren und der Bildungslücke der Doktors ignorantia die Schlüsselschrift zum Thema.  Nur im Licht Lenins erscheinen heute die Pluspunkte der RAF und wir sollten die Taten der RAF erst nach Lesen und Durchdenken von Lenins Schlüsselschrift würdigen. Da kommt einiges zu Tage.

Grundsätzlich gilt die Feststellung Lenins, dass sowohl der Krieg als auch der Partisanenkrieg eine kunterbunte Sache sei. Man darf hier keine Schablone anwenden.  Grundsätzlich gilt, dass Marxistinnen und Marxisten den Bürgerkrieg oder den Partisanenkrieg als eine seiner Formen nicht schlechthin als anormal und demoralisierend ablehnen können. “Der Marxist steht auf dem Boden des Klassenkampfes und nicht des sozialen Friedens“4. Grundsätzlich gilt, dass man sich nicht auf bestimmte Kampfformen versteifen darf, auch nicht darauf, dass man bestimmte Kampfformen ablehnen darf, dass man aus Massenbewegungen lernen muss, Massen gegenüber aber nicht belehrend auftritt. Bankexpropriationen und Liquidierungen einzelner, verhasster Träger des alten Regimes sind mit dem Marxismus vereinbar. Es liegt also überhaupt kein Grund vor, die Parole: ‘Jeder reiche Geier soll enden wie der Schleyer‘ aus dem linken Portfolio zu streichen. Es liegen bereits zwei Pluspunkte für die RAF vor. Grundsätzlich gilt, dass im Krieg situativ entschieden werden muss, dass es sich im Krieg um eine konkrete Analyse einer konkreten Situation handelt, dass bisher unbekannte Kampfformen aufkommen, dass sich die Maßstäbe nach Lage der Dinge verändern können. Die Opportunisten werfen den Bolschewiki Schreckensherrschaft und Ausschreitungen des Pöbels vor. Der dritte Pluspunkt der RAF bestand aus Anschlägen auf US-Soldaten als ein elementarer Bestandteil eines nationalen Befreiungskampfes.

Die ökonomisch-politische Konstellation UdSSR-DDR-SED-Stasi hatte es mit sich gebracht, dass die in der DDR unterzutauchen Suchenden der RAF unter Verlust ihrer Identität politisch kaltgestellt wurden, statt sie klassenkämpferisch weiter zu perfektionieren und wieder in das Klassenkampfoperationsgebiet Westdeutschland einzusetzen. Das war eine Folge des XX. Parteitages der KPdSU, aus dem heraus im Namen einer friedlichen Koexistenz die annähernd militärisch-waffentechnische Pattsituation mit atomarer Garantie zwischen den beiden sogenannten Supermächten als stabil zu halten war. Ein Gleichgewichtsdenken eignet der Reaktion, im 19. Jahrhundert lag es nach dem Wiener Kongress und in der Bismarckära vor.

Auf die RAF trifft zu, was Lenin über die Intellektuellen aus dem russischen Mittelstand schrieb, die 1881 Alexander hinrichteten: “Sie haben den höchsten Opfermut entwickelt und die ganze Welt durch ihre heldenhafte terroristische Methode des Kampfes in Erstaunen versetzt. Sicher fielen diese Opfer nicht umsonst, sicher haben sie – sowohl in direkter als auch in indirekter Weise – zur späteren revolutionären Erziehung des russischen Volkes beigetragen. Aber ihr unmittelbares Ziel, das Erwachen einer Volksrevolution, haben sie nicht erreicht und nicht erreichen können“5.
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  1. Vergleiche Markus Mohr, Große Frauen der Weltgeschichte, in:
    Die Rote Hilfe, April 2022, Seite 13.
  2. a.O.,Seite 14.
  3. a.O.,Seite 14.
  4. (Lenin, Der Partisanenkrieg, in: Lenin, Marx-Engels-Marxismus,
    Dietz Verlag Berlin,1967, Seite 182.
  5. Lenin, Ein Vortrag über die Revolution von 1905, Werke, Band 23,
    Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 251.

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Dieser Artikel fußt auf eine Vorlage von Heinz Ahlreip. Eine Weiterveröffentlichung des Textes ist gemäß einer Creative Commons 4.0 International Lizenz ausdrücklich erwünscht. (Unter gleichen Bedingungen: unkommerziell, Nennung der verlinkten Quelle (»Der Weg zur Partei«) mit Erscheinungsdatum).
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