Susan Bonath

Allein auf der Straße

Verein warnt: Wohnungslosigkeit unter Jugendlichen wächst. Zehntausende fallen aus den Netzen, deutlich mehr als angenommen
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Susan Bonath

In Deutschland leben offenbar weit mehr Jugendliche auf der Straße als bisher angenommen . Das geht aus einer Studie hervor, die das Deutsche Jugendinstitut (DJI) am Freitag veröffentlichte. Interviews mit Betroffenen und Betreuern von Noteinrichtungen ergaben danach, dass aktuell vermutlich rund 37.000 junge Menschen unter 26 Jahren keine feste Bleibe haben. Zu zwei Dritteln handele es sich um Jungen und junge Männer, ein Drittel seien Mädchen und Frauen. Jeder vierte von ihnen lebe durchgängig auf der Straße. Die anderen finden meist Unterschlupf bei Bekannten oder Freunden. Etwa ein Fünftel aller Betroffenen sei minderjährig.

Vor zwei Jahren war das DJI von insgesamt etwa 21.000 Betroffenen ausgegangen. Auch bei den neuen Zahlen handelt es sich um Schätzungen. Da nicht alle Jugendlichen Hilfe in Anspruch nehmen, ist eine hohe Dunkelziffer wahrscheinlich. »Straßenjugendliche bleiben in Städten oft unsichtbar und konnten somit vermutlich nicht adäquat erfasst werden«, konstatiert Autorin Carolin Hoch in einer Mitteilung des Vereins, der in München und Halle (Saale) ansässig ist und Geld unter anderem vom Bund und von den Ländern erhält. Der habe zudem nicht in allen Landkreisen Hilfeeinrichtungen gefunden, die befragt werden konnten. Generell sind die Zahlen zur Wohnungslosigkeit in der BRD nur Schätzungen. Es wird hierzulande nicht erhoben, wie viele Menschen auf der Straße leben und auf Hilfsangebote angewiesen sind.

Betroffene selbst sagten am häufigsten aus, dass sie nach dem 16. Lebensjahr auf der Straße gelandet seien. Ein kleiner Teil sei bereits vor dem 15. Geburtstag obdachlos geworden. Unter den Minderjährigen befänden sich mehr Mädchen als Jungen, so Hoch. Diese Gruppe falle am häufigsten aus allen sozialen Netzen. »Jüngere sind eher auf Betteln und unterstützende Privatpersonen angewiesen«, mahnt das Institut. Mit der Volljährigkeit kehre sich das Geschlechterverhältnis um.

Auf Bänken und unter Brücken harren viele Jugendliche aus.
Foto: © 2017 Pixabay

Das DJI sieht Jugendämter als mitverantwortlich für die hohe Zahl junger Wohnungsloser. Zum 18. Geburtstag beende es meist abrupt jede Hilfe. »So wächst das Risko, dass sie unbemerkt aus den Hilfestrukturen herausfallen«, so die Autorin. »Insbesondere Heimkinder scheitern nach dem 18. Geburtstag reihenweise«, weiß Markus Seidel von der Stiftung »Off Road Kids«. Grund sei, teilte er am Freitag mit, dass überschuldete Kommunen das Kinder- und Jugendhilfegesetz nicht ausreichend umsetzen könnten. »Sie brechen die Betreuung erheblich zu früh ab oder reduzieren sie«, warnte Seidel. Dies erlebten die Streetworker von »Off Road Kids« in Berlin, Dortmund, Hamburg und Köln sowie die Mitarbeiter des bundesweiten Onlineportals »Sofahopper« jeden Tag: »Nahezu alle wohnungslosen jungen Erwachsenen waren zuvor in der Jugendhilfe untergebracht«, so Seidel. Ihr Sprung in ein geregeltes Leben missglücke aufgrund der viel zu frühen Entlassung in die Selbständigkeit. Neu ist Seidels Hinweis nicht. Das DJI warnte bereits vor zwei Jahren vor dem fließenden Übergang von Heim- in Straßenkarrieren.

Offenbar sind sich auch viele Eltern Betroffener hilflos. Laut Verein gaben zwar viele Befragte familiäre Probleme als Auslöser für ihr Leben auf der Straße an. Die meisten hätten aber weiterhin Kontakt zu ihren Elternhäusern. Ein fehlender Schulabschluss ist ebenfalls nicht die Hauptursache. Dies betreffe nur gut ein Viertel der Jugendlichen. 42 Prozent verfügten hingegen über einen Haupt- und rund 30 Prozent über einen Realschulabschluss. Durchschnittlich lebten Betroffene zwar »nur« ein Jahr auf der Straße. Etliche schafften aber den Absprung nicht: »Je älter sie werden, desto mehr verstetigen sich die Straßenkarrieren«, so der Verein.

Auch die Jobcenter dürften ihren Anteil an dem Problem haben. Die von SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles fortgeführte und von ihnen durchgesetzte Politik sieht weiterhin vor, junge Erwerbslose zwischen 15 und 24 Jahren besonders hart zu bestrafen, wenn sie Anweisungen der Behörde nicht folgen. Schon zwei »Vergehen« innerhalb eines Jahres können zu einer dreimonatigen Totalsanktion führen: Sie erhalten weder Geld fürs Essen noch für die Miete. Beantragen sie nicht selbständig Lebensmittelgutscheine, fallen sie aus der Krankenversicherung. 2016 traf diese Härte monatlich rund 3.500 unter 25jährige, darunter etwa 200 Minderjährige.

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Erstveröffentlichung: Junge Welt, 25.03.2017. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin
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