F.-B. Habel

Deutsche Zitronen

In Berlin wurde der Kurt Tucholsky-Preis an Sönke Iwersen verliehen
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F.-B. Habel

„Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben übern Graben, Leute, übern Graben – !“ Diese Zeilen aus dem von Hanns Eisler vertonten Gedicht Tucholskys, „Der Graben“, entstanden eingedenk des Ersten Weltkrieges, wurden auf der diesjährigen wissenschaftlichen Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft mehrfach zitiert, vom Vorsitzenden Dr. Ian King auch angestimmt. Der in London lebende Schotte legte besonderen Wert auf den letzten Begriff des Tagungsthemas „Tucholsky, Die Weltbühne und Europa“ und sparte nicht mit bissigen Anspielungen auf den Brexit. Er ging auf Tucholskys Kämpfe ein, um Nationalismus und vor allem Nationalsozialismus durch Zusammenschluss aller linken Kräfte zu verhindern und zitierte den Satiriker mit „Ich bin Anti-Antikommunist. Aber ich bin kein Kommunist.“

 

Der Graben

Mutter, wozu hast du deinen Sohn aufgezogen?
Hast dich zwanzig‘ Jahr mit ihm gequält?
Wozu ist er dir in deinen Arm geflogen,
und du hast ihm leise was erzählt?
Bis sie ihn dir weggenommen haben.
Für den Graben, Mutter, für den Graben.

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Junge, kannst du noch an Vater denken?
Vater nahm dich oft auf seinen Arm.
Und er wollt dir einen Groschen schenken,
und er spielte mit dir Räuber und Gendarm.
Bis sie ihn dir weggenommen haben.
Für den Graben, Junge, für den Graben.

Drüben die französischen Genossen
lagen dicht bei Englands Arbeitsmann.
Alle haben sie ihr Blut vergossen,
und zerschossen ruht heut Mann bei Mann.
Alte Leute, Männer, mancher Knabe
in dem einen großen Massengrabe.

Seid nicht stolz auf Orden und Geklunker!
Seid nicht stolz auf Narben und die Zeit!
In die Gräben schickten euch die Junker,
Staatswahn und der Fabrikantenneid.
Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben,
für das Grab, Kameraden, für den Graben!

Werft die Fahnen fort!
Die Militärkapellen spielen auf zu euerm Todestanz.
Seid ihr hin: ein Kranz von Immortellen –
das ist dann der Dank des Vaterlands.

Denkt an Todesröcheln und Gestöhne.
Drüben stehen Väter, Mütter, Söhne,
schuften schwer, wie ihr, ums bißchen Leben.
Wollt ihr denen nicht die Hände geben?
Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben
übern Graben, Leute, übern Graben -!

Dass diesmal Tucholsky als Internationalist (mit den zeitbezogenen Einschränkungen) im Mittelpunkt stand, zeigte sich u.a. in der zweimaligen Mitwirkung von Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten aus Szczecin/Stettin. Dort hatte Tucholsky in seiner Kindheit gelebt und die ersten Schuljahre verbracht. In der heute polnischen Stadt wird sein Andenken hochgehalten. Als Dank bekam jeder der polnischen Germanistik-Spezialisten eine hübsche Tucholsky-Postkarte als Andenken, auch der blinde Student, der das Programm auf dem Saxophon begleitete. Wie hätte Tucholsky das kommentiert?

Preisträger Sönke Iwersen

Diese Frage stellte sich im Verlauf der Tagung in der Humboldt-Universität immer wieder, wenn von den schleichenden Fortschritten in Europa und von anwachsenden nationalistischen Tendenzen die Rede war. „Deutsche, kauft deutsche Zitronen!“, hatte Tucholsky 1932 in seinem Gedicht „Europa“ in der Weltbühne provokant gefordert.

Bei den Referenten Dr. Wolfgang Beutin in seinem klarsichtigen Eröffnungsvortrag und Dr. Thomas Schneider ging es um Europakonzepte der 20er Jahre. Schneider hatte sich auf den weitgehend vergessenen Autor Emil Ludwig spezialisiert, der einst zu den international führenden deutschen Literaten zählte. Er war damals ein Anhänger der von Tucholsky mit Skepsis gesehenen Paneuropa-Union des Nikolaus Coudenhove-Kalergi. Emil Ludwig, ein eher linksliberal denkender, aber durchaus großbürgerlicher Jude, gewann in den Emigrationsjahren noch einmal großen Einfluss. In Maria Schraders vorzüglicher filmischer Stefan-Zweig-Biografie „Vor der Morgenröte“ (2016) kann man ihn als Redner auf dem PEN-Kongress 1936 in einer wichtigen Szene sehen, und er war später in den USA ein gern gehörter Ratgeber bei Präsident Roosevelt in europäischen Fragen.

Andere Referenten wandten sich weiteren von Tucholskys Mitautoren in der Weltbühne zu. Lothar Persius beispielsweise wandelte sich vom kritischen Marineoffizier der Kaiserzeit zum pazifistischen Journalisten, legte der Stuttgarter Student Sebastian Rojek dar. Oberstleutnant i. R. Jürgen Rose vom Arbeitskreis Darmstädter Signal hatte seine Mitwirkung an Kampfeinsätzen der Bundeswehr verweigert und war einen ähnlichen Weg gegangen, wie er in der Diskussion engagiert darlegte.

Mascha Kaléko, 1907 bis 1975

Eine andere junge Wissenschaftlerin, Dr. Julia Meyer aus Dresden, ging auf die damals so apostrophierte „Tochter Tucholskys“, Mascha Kaléko, ein. Die Weltbühnen-Autorin war seit Ende der zwanziger Jahre eine erfolgreiche Satirikerin und konnte – weil ihre jüdische Abstammung noch nicht bekannt war – bis Mitte der dreißiger Jahre bei Rowohlt Lyrikbände veröffentlichen. In der Emigration in den USA arbeitete sie u.a. für die deutschsprachige jüdische Zeitschrift Aufbau. An Tucholsky lehnte sie sich deutlich an, als sie die Satire „Herr Wendriner in Manhattan“ schrieb, in der sie den großbürgerlichen Geschäftemacher nicht mehr jiddeln ließ, wie bei Tucholsky, sondern Amerikanismen einstreute – eine „erbarmungslose Nacktaufnahme der deutsch-jüdischen Bourgeoisie“, wie Gershom Scholem schrieb. Folgerichtig fand sich damals auch niemand, der den Text gedruckt hätte.

Wie Europa nach 1945 in der deutschen Literatur behandelt wurde, dass nämlich die Gegenwart von bundesdeutschen Literaten zunächst ausgeklammert wurde, während in der DDR früh ein eigenes Gegenwarts-Genre, der Aufbauroman, ein interessiertes Publikum fand, legte der aus Malta angereiste britische Germanist Dr. Stuart Parks dar.

Ein früherer Tucholsky-Preisträger war zum Abschluss des Tucholsky-Wochenendes eingeladen worden, aber nicht erschienen. Deniz Yücel hätte dafür bei Erdoğan Urlaub einreichen müssen, aber ob der Tucholsky kennt? Aktivisten von #Free Deniz berichteten von den derzeitigen Lebensumständen des mutigen Journalisten in türkischer Haft. Sein Stuhl im Parkett des Theaters im Palais blieb bei der Preisverleihung demonstrativ frei.

Der diesjährige Tucholsky-Preisträger gehört auch zu den Journalisten, die sich mit ihrer Arbeit Ärger einhandeln. Der 46jährige Sönke Iwersen arbeitet für das Investigativ-Ressort des Handelsblatts und hat teilweise spektakuläre Affären wie die um die Budapester Lustreisen einer Versicherungsgesellschaft aufgedeckt. Der Preis wurde ihm jedoch zuerkannt, weil er in seiner Reportage „Schutzengengel ganz unten“ auf die Spur von Flüchtlingen in einem Armenviertel von Hongkong kam, die ganz selbstlos einen anderen Flüchtling zwei Wochen lang versteckten, von dem sie nicht wussten, dass er prominent war. In diesen 14 Tagen war der Whistleblower Edward Snowden 2013 der meistgesuchte Mann der Welt.

In der Begründung der Jury unter Vorsitz des Pädagogen und Satirikers Dr. Wolfgang Helfritsch hieß es: Der Blick hinter die Fassaden Hongkongs verknüpft unser Zeitalter weltweiter Aus- und Einwanderung mit einer unbekannten Episode der Snowden-Affäre. Diese Verquickung im Zeitalter weltweiter Überwachung ist engagiert, originell, aufklärerisch – und deshalb preiswürdige Publizistik in bester Tradition Kurt Tucholskys.“

Iwersen machte nicht nur auf diese Menschen aus Sri Lanka und von den Philippinen aufmerksam, sondern versuchte auch per Crowdfunding Geld zu sammeln, um ihnen ihr Los zu erleichtern. Bis heute haben sie den unsicheren Flüchtlingsstatus, wie auch Edward Snowden in Moskau nicht selbstbestimmt leben kann. Kurt Tucholsky war schließlich auch am Lebensende ein Flüchtling in Europa, der sich verstecken musste, und er hat nicht einmal seinen 46. Geburtstag erlebt.

Er hatte 1924 in der Weltbühne geschrieben: „Man ist in Europa ein Mal Staatsbürger und zweiundzwanzig Mal Ausländer. Wer weise ist: dreiundzwanzig Mal.“

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