Volkskorrespondent

Andre Accardi
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Ein Tag in Chemnitz

Ich besuchte Chemnitz einen Tag nach dem Mord an dem Tischler Daniel Hillig
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Andre Accardi

Als ich über die Ausschreitungen und den Mord in den Medien gehört habe, habe ich sofort das Gefühl gehabt, dass da etwas nicht stimmt. Einerseits berichten die Medien so und andererseits berichten die Medien so. Da ich Nachtschicht hatte, entschloss ich mich von Montag auf den Dienstag nach Chemnitz zu reisen und selber danach zu forschen, was an den Vortagen dort passierte.

Auf der Arbeit habe ich noch überlegt, welche Sinnhaftigkeit mein Besuch in Chemnitz hat und ob es überhaupt eine hat. Umso länger ich darüber nachgedacht habe, war ich mir sicher das ich hinfahren muss, um auf die Suche nach der Wahrheit zu gehen. Nach der tiefen Sehnsucht mit anderen Menschen zu reden, die vielleicht mehr wissen. Heraus kam ein Interview mit einem türkischen Genossen, viele kleine Gespräche aber auch die Erkenntnis, dass nicht alles Gold ist was glänzt und dass die Medien nicht imstande sind zu differenzieren.
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Medien und ihre Fehler

Besonders die Fernsehsender ARD und ZDF sowie die kompletten Staatsmedien behaupteten das sich in Chemnitz, Linke und Rechte gegenüberstanden. Das war aber nicht so, das hat mir sogar ein CDU-Mitglied bestätigt. Er sagte mir, dass bei den Krawallen die antifaschistischen Gegendemonstranten in keiner Weise gewaltsam vorgegangen ist.  Im Gegenteil, dass was man als links bezeichnet, waren deutlich in der Minderheit. Er sagte weiter das bei der Gegendemo, also bei den die gegen Rechts sind, folgende Organisationen und Parteien anzutreffen, waren: die CDU, die SPD, die FDP, der Naturschutzbund, die AWO und verschiedene Einzelgewerkschaften. In der Minderheit waren die revolutionäre Linke, die interventionistische Linke, die Parteien DIE LINKE, MLPD, DKP und KPD sowie der rote Aufbau. Ein Gewerkschaftsmitglied der IG Metall und ein Mitglied der Gewerkschaft Verdi stimmten dem zu. Alle drei Mitglieder bestätigten ebenfalls das unorganisierte Bürger bei den Gegendemonstranten in der großen Mehrheit waren und das der Protest friedlich geführt wurde.  Die bürgerlichen Medien berichten aber übereinstimmend, dass Linke Gewalt angewendet haben und das es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen links und rechts gekommen ist. Das ist also gelogen, und sogar Polizeibeamte haben mit vor gehaltener Hand die Schilderungen des CDU-Mannes bestätigt. Ich stelle mir die Frage, warum hier die Staatsmedien übereinstimmend lügen.

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Ankunft in Chemnitz

Ich bin in Chemnitz aus dem Zug ausgestiegen und wurde sofort beobachtet und nachdem ich das Bahnhofsgelände verlassen habe, habe ich Patrouillen der Nazis beobachtet. Überall war die Stimmung gedrückt, mies, voller Angst und eigentlich auch irreal. Es war eine Zeitreise ins Jahr 1933, so hat es sich für mich angefühlt. Denn es waren nicht nur Nazis die mich beschattet haben, sondern auch die Polizei hat ihr Übriges dazu geleistet, dass ich mich so gefühlt habe.

Archivbild: So sehen sie aus die gewaltbereiten Nazis und die Bürger aus die keinen Anlass dafür sehen sich von diesen Faschisten zu distanzieren

Ca. 300 Meter hinter dem Bahnhof wurde ich Zeuge davon, wie ein junger Mensch, mit vermutlich ausländischen Wurzeln, von einem Nazi geschlagen worden ist. Der Nazi hat dem Jungen empfohlen sich doch selber um zu bringen. Polizisten saßen 20 Meter davon entfernt in ihrem Auto und unternahmen nichts. Als der Junge sich von den Faustschlägen erholt hatte, hat er sich schnell entfernt. Ich stand daneben und dachte mir das, dass jetzt der Normalfall in Deutschland werden könne. Ich habe den jungen Mann festgehalten und bin mit ihm zum Polizeiauto gegangen und er machte mich gleich darauf aufmerksam das, dass keinen Zweck hätte, weil er ja Migrationshintergrund hat. Ich habe dann den Jungen festgehalten und wir beide gingen zu diesem Polizeiauto. Die zwei Polizisten, darunter eine Frau, hatte die Scheiben ihres Dienstfahrzeuges geschlossen. Ich klopfte an eine Scheibe und auf die Frage der beiden Beamten was denn sei, sagte ich: „Schauen Sie sich bitte die rechte Wange dieses Jungen an, dieser Mann wurde soeben 20 Meter weiter weg von ihrem Polizeiauto von einen offensichtlich rechtsorientierten Menschen niedergeschlagen.“ Die Beamten, die eindeutig den Angriff des Rechten gesehen haben, sagten, wir haben nichts gesehen – wer weiß woher dieser Junge diese blauen Flecken hat. Dann habe ich den Polizisten gesagt das ich eindeutig gesehen habe wie sie den Angriff der Rechten beobachtet haben. Der Junge wiederum bestätigte der Polizei, dass er das Polizeiauto gesehen hat, weil er nach einem Fluchtweg suchte und das Polizeifahrzeug aufgrund des Blaulichtes es auf dem Dach wahrgenommen hat. Die Polizisten meinten dann das wir mit so einer Art der Unterstellungen, gerade hier an diesem Ort, sehr vorsichtig sein sollten.
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Gespräch mit dem Jungen

Ich fragte den Jungen ob ich ihn ein Stück begleiten können oder sonst irgendwie helfen könne, weil ich merkte das er bitterlich zitterte. Er sagte mir, dass es für ihn normal sei, das er aufgrund seiner Herkunft, von Leute die er nicht kenne und denen er nichts getan hat, geschlagen werde. Er war unterwegs um für seine Mutter beim Bäcker Brot zu kaufen. Dann hat er mir erzählt, dass es in Chemnitz völlig normal wäre, so behandelt zu werden und er es gar nicht anders kenne. Da ich selber, nach meiner Nachtschicht, Hunger hatte begleitete ich den Jungen zum Bäcker. Ich zahlte ihm, bevor ich mich von ihm verabschiedete, sein 500g Brot.  Danach saß ich beim Bäcker, schlürfte meinen Kaffee und dachte darüber nach, was es heißt tagtäglich so behandelt zu werden und was es zu bedeuten hat, wenn man in einem Land wohnt wo man immer wieder zu hören bekommt das man nicht erwünscht ist.  Es kam der Moment wo ich am liebsten wieder nach Hause gefahren wäre aber ich wusste, dass ich als Antifaschist die Aufgabe habe dort zu bleiben. Da meldete sich unerwartet ein türkischer Genosse, der mich treffen wollte um mir ein Interview zu geben. Wir machten einen Ort aus und ich machte mich zu Fuß auf den Weg.
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Der Weg

Überall auf meinem Weg durch die Stadt war kaum Polizeipräsenz zusehen. Nur dort wo die Blumen für den ermordeten Tischler Daniel Hillig niedergelegt waren, war auch die Polizei präsent. Ich stand andachtsvoll vor diesem Blumenmeer und ich schämte mich, dass ich selber keine Blume für diesen Kollegen hatte. Fünf Minuten trauerte ich mit den anderen mitfühlenden Menschen, die wie ich fast regungslos verharrten.

Archivbild: Ein Foto des ermordeten Daniel Hillig steht am Tatort zwischen zahlreichen Blumen und Kerzen

Der Umgang mit den Mitmenschen

Sehr oft habe ich Nazis und Rassisten gesehen, die Leute mit Kopftuch einfach weg geschubst haben und gesagt haben dass sie sich doch verpissen sollen oder sie wurden als Schädlinge bezeichnet. Eine Frau mit einem Kinderwagen wurde von zwei Nazis auf die Straße geschubst. Der Kinderwagen blieb zum Glück auf dem Gehweg stehen aber die Frau fiel auf die Straße. Sie hatte Glück dass kein Auto sie erfasst hat. Ich war schockiert am helllichten Tag immer wieder Nazis zu sehen die Frauen und Kinder schlagen, schubsen und sie beschimpfen. Ich war wie in einem dauerhaften Schockzustand, in meiner Trauer über diese Verhältnisse kam es dann endlich zu dem Interview, weswegen ich den Weg auf mich genommen habe.
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Mein Interview mit Timgül, einem Genossen aus der Türkei, den ich in Chemnitz getroffen habe
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Andre: Hallo Timgül, du hast dich kurzfristig für ein Interview entschieden darf ich dich fragen warum?

Timgül: Ja, ich möchte gerne noch etwas loswerden. Auch wenn sich zz. hier in Chemnitz alles sehr schrecklich anfühlt, so gibt es auch aufrichtige, ehrliche nette Menschen, die einem wieder Mut machen. Es ist also nicht alles schlecht!

Andre: Was meinst du genau? Ich habe die trauernden Menschen am Blumenmeer gesehen und auf der anderen Seite habe ich sehr viele Nazis und Wutbürger gesehen die eindeutig bereit sind zu jeder Zeit zuzuschlagen.

Timgül: Nun ja, es ist ja so die Nazis und nicht die Antifaschisten hier in Sachsen eindeutig in der Überzahl sind. Das ist aber kein Grund auf zu geben, sich täglich als Antifaschist zu outen und mit den Menschen zu reden. Es ist für uns, die hier leben nichts Neues. Durch die Eskalation am vergangenen Wochenende ist der Rest der Deutschen mal wieder darauf aufmerksam geworden und die Presse schickt ihre Reporter um ein Stück von den „News“ zu ergattern. Dabei sollten die Antifaschisten sich aber nicht auf den Angriff der Neonazis beschränken, sondern auch immer wieder den staatlichen Faschismus anprangern.

Andre: 
Naja über den staatlichen Rassismus habe ich mir schon meine Gedanken, z. B. das die Entnazifizierung nie wirklich konsequent stattgefunden hat.

Timgül: Es gibt einen großen Teil von Menschen in der Gesellschaft die große Angst haben und sich deswegen nicht wagen gegen die Nazis auf zu stehen. Sie hoffen das sich das Problem von alleine legt und sie persönlich unbeschadet bleiben.

Andre: Haben wir eine gewaltsame rechte Revolte vor unserer Brust? Wird es denn überhaupt noch möglich sein diese aufzuhalten?

Timgül: Ich sah einmal in der Nachrichten-Gruppe „Linke Nachrichten“ eine Dokumentation über die bewaffneten Rechten in Osteuropa und Russland. Wie bei diesen Nazis sind die Nazis hier in Deutschland ebenso schwer bewaffnet. Einige haben ihre Waffen noch nicht im Besitz und können sie aber jederzeit holen.

Andre: Meinst Du das alle Nazis in Osteuropa zwischenzeitlich so gut vernetzt sind, um einen kompletten Umsturz machen zu können?

Timgül: Auch die in Rechten in Russland, der Ukraine und Ungarn könnten sofort loslegen. Bloß wir braucht eine Revolte, wenn er Viktor Orban hat und wer braucht eine Revolte, wenn man Putin hat? Nur in der Ukraine kann eine rechte Revolution momentan nicht ausgeschlossen werden. Aber auch bei uns in Deutschland könnte es jederzeit soweit sein, der Staat schaut zu, denn er braucht die Rechten und er braucht die Nazis um dem Volk ein Feindbild zu liefern. Ich bin mir sicher, dass der Antifaschismus in Zukunft nicht mehr durch Pazifismus und Friedens Bekenntnisse zu retten ist.

Andre: Okay an dieser Stelle bedanke ich mich für das interessante Interview und ich hoffe, dass wir in Kontakt bleiben.

Timgül: Ich habe zu danken.
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Auf den Weg zum Bahnhof

Als ich den Ort verlassen habe, gingen mir verdammt viele Gedanken durch den Kopf. Ich wurde definitiv immer noch beschattet und habe die Beschatter auch selber beobachtet. Ich schaue nach links und rechts und die Stadt wurde für mich immer ungemütlicher. Dieses Ohnmachtsgefühl nichts tun zu können war allgegenwärtig und als ich endlich den Bahnhof war ich unglücklich und unzufrieden mit meinem Arbeitsergebnis. Es war für mich auf der einen Seite ein Gefühl von „etwas Nützliches“ getan zu haben und auf der anderen Seite ein Gefühl doch nichts erreicht zu haben.

Das was ich in Chemnitz erlebt habe, kann und darf niemals Alltag werden!

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