Susan Bonath

Qualifiziert ins Prekariat

In ihrem neuen Berufsbildungsbericht vermeldet die Bundesregierung Rekord bei ­unbesetzten Lehrstellen. Doch so rosig ist die Situation nicht
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Susan Bonath

Die lobenden Worte, mit denen Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) am Mittwoch den neuen »Berufsbildungsbericht 2017« vorstellte, klangen wie eine Drohung an Schulabgänger: »Jugendliche haben selten so gute Chancen auf einen interessanten Ausbildungsplatz und attraktive Berufsperspektiven gehabt wie heute«, freute sie sich. Laut Bericht standen hundert Schulabgängern 104 Angebote gegenüber, »so viele wie nie«. Rund 43.500 der insgesamt knapp 564.000 angebotenen Plätze im dualen System aus Berufsschule und Betrieb seien bis zum 30. September jedoch unbesetzt geblieben. »Für Firmen ist es schwieriger geworden, ihre Ausbildungsstellen zu besetzen«, so Wanka. Mit anderen Worten: Es gibt keine Probleme, und jeder, der keine Lehrstelle findet, ist selber schuld.

So einfach ist das aber nicht. Laut Report bildete 2016 zum Beispiel nur noch jeder fünfte Betrieb aus. Diese Quote war damit gegenüber dem Vorjahr erneut leicht gesunken. Die Lehrstellen konzentrierten sich zunehmend auf größere Konzerne. Vor allem Kleinstbetriebe zögen sich vom Ausbildungsmarkt zurück.

Ein weiteres Fazit: Jugendliche mit Hauptschulabschluss haben es immer schwerer, einen Platz zu finden. Die duale Ausbildung werde für Abiturienten attraktiver, schlussfolgerte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) am Mittwoch in einer Auswertung des Berichts. Fast 28 Prozent aller Azubis im dualen System hätten im vergangenen Jahr über eine Studienberechtigung verfügt, so der DGB. Im Jahr 2009 seien etwa 20 Prozent der Lehrlinge Abiturienten gewesen. Danach überstieg ihre Zahl erstmals die der Hauptschüler. Letztere machten bei den Azubis einen Anteil von knapp 27 Prozent aus.

»Andererseits haben 1,22 Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 29 Jahren in Deutschland keine abgeschlossene Berufsausbildung und befinden sich weder in der Schule noch im Studium«, kritisierte die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack am Mittwoch in einer Mitteilung. Dies seien fast 13 Prozent dieser Altersgruppe. »Das heißt: Unterm Strich bleiben pro Jahrgang mehr als 120.000 Jugendliche ohne Lehrstelle«, resümierte Hannack. Ihnen drohe »ein Leben in Langzeitarbeitslosigkeit oder prekärer Beschäftigung«. Die DGB-Vizechefin plädiert deshalb für eine gesetzliche Ausbildungsgarantie, »die allen Jugendlichen die Perspektive auf einen Berufsabschluss eröffnet«. Laut DGB-Analyse schafft derzeit nur knapp jeder zweite Hauptschüler direkt den Sprung in eine Ausbildung. Firmen stellten immer höhere Anforderungen. Nur ein Drittel der Angebote komme überhaupt für Hauptschulabgänger in Frage.

Der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Achim Dercks, sieht das anders. Weil viele Betriebe gar keine Bewerbungen auf freie Plätze mehr erhielten, stellten sie zunehmend »Leistungsschwächere« ein, erklärte er gegenüber dpa. Er meint damit Asylsuchende und Hauptschüler. Etwa drei Viertel von letzteren beginnen seiner Rechnung nach inzwischen eine Ausbildung.

Hinzu kommt: Die Zeiten, in denen eine gute Berufsbildung vor Niedriglohn geschützt hat, sind längst vorbei. In einer am Montag vorgestellten Studie kritisierte der DGB, bundesweit verdiene jeder fünfte Beschäftigte mit einem qualifizierten Abschluss weniger als zehn Euro brutto in der Stunde. In Ostdeutschland müssten sogar 40 Prozent der gut ausgebildeten Facharbeiter von einem solchen Hungerlohn leben. Dies liege mit daran, dass weit weniger Betriebe in den neuen Ländern tarifgebundene Löhne zahlten.

»Kein Wunder, dass es unter diesen Bedingungen vielen Betrieben schwerfällt, ihre Stellen zu besetzen«, rügte Elke Hannack. Wer einen vermeintlichen Fachkräftemangel beklagt, dürfe keine Niedriglöhne zahlen. Den Mangel hätten Unternehmen damit größtenteils selbst zu verantworten. Nach Angaben der Bundesregierung erhielten 2014 fast acht Millionen Beschäftigte weniger als zehn Euro pro Stunde. Damit war davon fast ein Viertel aller Beschäftigten betroffen. Viele Firmen greifen bei Neueinstellungen zunächst auf Leiharbeiter statt Azubis zurück. Auch gut ausgebildete junge Menschen haben oft keine andere Chance.

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Erstveröffentlichung: Junge Welt, 06.04.2017. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin
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